Autismus-Spektrum-Störung (ASS) kompakt

In den letzten Jahren stellen sich mehr Patientinnen und Patienten mit der Bitte um eine ASS-Abklärung vor. Häufig ist die Diagnosenstellung nicht einfach, weshalb wir - nicht zuletzt auch für uns in der Praxis für Neuropsychiatrie - die wichtigsten Aspekte zusammengetragen haben.


Definition

Unter Autismus-Spektrums-Störungen (ASS) versteht man eine heterogene Krankheitsklasse mit Beginn im Kindesalterchronischem Verlauf und Persistenz bis ins Erwachsenenalter. Den Unterformen gemeinsam sind sogenannte Kernsymptome. Dies sind 1.) eine qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation und der sozialen Interaktion, 2.) repetitive und stereotype Verhaltensweisen oder spezifische Interessenbereiche und 3.) Abweichungen in Wahrnehmung, Denken, Erleben und Verhalten. 

Basale Fertigkeiten der sozialen Kognition wie Emotionserkennung, Einsetzen und Verstehen von Mimik und Körpersprache, Erkennen und Mitteilen eigener Absichten aber auch Perspektivenwechsel sind bei Betroffenen nicht genügend gut ausgebildet, um soziale Interaktionen erfolgreich zu meistern.

Zu den drei wichtigsten Varianten der Autismus-Spektrums-Störungen zählen 1.) der Frühkindliche Autismus, 2.) das Asperger-Syndrom, und 3.) der Atypische Autismus. Da diese Unterformen häufig nicht einfach voneinander abzugrenzen sind, spricht man heutzutage von Autismus-SPEKTRUMS-Störung(en) mit fliessenden Übergängen. Die Ausprägungsformen reichen von milden bis hin zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen und geistiger Behinderung – DEN Autisten gibt es nicht

Der Begriff Autismus wurde ursprünglich von H. Asperger (1944) für eine Gruppe von Kindern mit vermeintlich schizoider Temperamentslage geprägt. Er beobachtete bei diesen Kindern eine besondere Wesensart. “Ihnen fehle das Kindhafte, sie blieben eher für sich, konnten sich nur schwer in Gruppen einordnen oder mit anderen spielen und zeigten wenige Gefühlsregungen; ferner seien sie oft begabt, jedoch im praktischen Leben oftmals ungeschickt."

 
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Diagnostische Kriterien

Im Klassifikationssystem DSM-V hat man eine Differenzierung in Unterformen weitgehend aufgegeben und spricht ‘nur noch’ zusammenfassend von der Diagnose einer Autismus-Spektrums-Störung (299.00). Im System der WHO, dem ICD-10 werden die Unterformen aktuell noch getrennt innerhalb der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (F84) beschrieben. 

Kernsymptome (Trias) bei allen Unterformen mit Erstmanifestation in der Kindheit sind: 

  1. Eine qualitative Beeinträchtigung im sozialen Verständnis und der sozialen Interaktion

  2. Abweichende Kommunikationsmuster

  3. Eingeschränktes, stereotypes und repetitives Repertoire an Handlungs- oder BewegungsmusterInteressen oder Vorlieben

Ferner bestehen oftmals psychopathologische Begleitsymptome in folgenden Bereichen:

  • Aufmerksamkeitsdefizite (Aufmerksamkeitsdefizite und Konzentrationsstörung; auch als komorbide ADHS möglich)

  • Störung der Emotionsregulation (Emotionsausbrüche bis hin zu Auto- und Fremdaggression)

  • Schlafstörungen (gestörte Schlafarchitektur, z.B. vermehrter REM-Schlaf)

  • Auffälligkeiten im Essverhalten (eigentümliche Essrituale, restriktives Essverhalten)

  • Abweichungen in der Motorik (mot. Unbeholfenheit, Manierismen, Tics)

  • Sensorik (Hypersensorik: Abneigung gegenüber taktile, olfaktorische, nozizeptorische Reize oder Thermorezeption; intensive Detailwahrnehmung)

Im Folgenden werden die Subtypen der ASS vorgestellt. Allen Störungen gemeinsam ist 1.) der Beginn im Kindesalter/Kindheit (Manifestation i.d.R. vor dem 5. Lebensjahr), 2). eine Entwicklungseinschränkung oder -verzögerung von Funktionen, die eng mit der biologischen Reifung des Zentralnervensystems verknüpft sind und 3.) stetiger Verlauf ohne Remissionen und Rezidive, wobei sich Symptome im Verlauf des Erwachsenenalters vermindern oder aber auch (in Abhängigkeit des Kontextes) verstärken können. 

Frühkindlicher Autismus (ICD-10 F84.0)

Charakterisiert durch eine abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung, welche 

  • sich zwingend vor dem dritten Lebensjahr manifestiert (meist bereits schon ab Geburt) und  

  • Auffälligkeiten in den Kernsymptomen aufweist

  • die Entwicklungsstörung äußert sich oft auf verbaler sowie motorischer Ebene und

  • in ¾ aller Fälle ist eine (deutliche) Intelligenzminderung vorhanden

Neben diesen spezifischen diagnostischen Merkmalen zeigt sich häufig eine Vielzahl unspezifischer Probleme, wie Phobien, Schlaf- und Essstörungen, Wutausbrüche und (autodestruktive) Aggression. 

Das Syndrom kann in jedem Alter diagnostiziert werden, sofern Auffälligkeiten in der Entwicklung in den ersten drei Lebensjahren vorhanden gewesen sind.

Atypischer Autismus (ICD-10 F84.1)

Charakterisiert durch eine abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung, welche 

  • sich erst nach dem dritten Lebensjahr manifestiert oder  

  • nicht alle Kriterien der Kernsymptome erfüllt

Atypischer Autismus tritt sehr häufig bei schwer retardierten bzw. unter einer schweren rezeptiven Störung der Sprachentwicklung leidenden Patienten auf.

Asperger-Syndrom (ICD-10 F84.5)

Charakterisiert durch eine abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung, welche 

  • sich im Kindesalter nach dem 3.Lebensjahr manifestiert und  

  • die Kriterien der Kernsymptome erfüllt, jedoch 

  • ohne fehlende allgemeine Entwicklungsverzögerung bzw. den fehlenden Entwicklungsrückstand der Sprache und der kognitiven Entwicklung (i.d.R. normaler bis hoher IQ!)

Die Störung geht häufig mit einer auffallenden Ungeschicklichkeit einher.Die Abweichungen tendieren stark dazu, bis in die Adoleszenz und das Erwachsenenalter zu persistieren. Gelegentlich treten psychotische Episoden im frühen Erwachsenenleben auf.

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Epidemiologie

Die Prävalenzrate (Anzahl der aktuell Betroffenen in der Gesamtbevölkerung) für eine ASS liegt – je nach Quelle – zwischen 0.1% bis 1 %. Dabei ist die häufigste Form die des Frühkindlichen Autismus, gefolgt vom Atypischen Autismus bis hin zu der kleinsten Prävalenz für das Asperger-Syndrom. Es gibt jedoch auch hier grosse Unterschiede, sodass einige Quellen von einer 1%-gen Prävalenz in der Bevölkerung für das Asperger-Syndrom sprechen.

Mit zunehmendem Interesse in den Medien und der Bevölkerung sowie vermehrter Aufklärung scheint sich auch die Prävalenzrate der ASS-Diagnose zu erhöhen, einerseits durch vermehrtes vorstellig werden beim Arzt, andererseits wahrscheinlich auch durch vermehrtes diagnostizieren.

Ähnlich scheint es sich für die Geschlechterverteilung zu verhalten. Wobei man früher das Geschlechtsverhältnis überschätzt haben dürfte, zeigen neuere Studien mittlerweile eine Geschlechtsverteilung  – und wiederum je nach Quelle – von 3:1 bis zu 2:1 (♂:♀). Es wird angenommen, dass sich die Ausprägungen bei Mädchen anders äußern, weniger offensichtlich sind und entsprechend erst später oder nicht erkannt werden (v.a. für milde Varianten) oder mit geringerem Leidensdruck einhergehen und entsprechend keine ärztliche Beratung in Anspruch nehmen.

Betrachtet man wiederum die Unterformen, zeigt sich eine niedrigere Geschlechtsdifferenz für den Frühkindlichen Autismus und den Atypischen Autismus (♂:♀ 3:1, 2:1). Beim Asperger-Syndrom findet man ein Geschlechtsverhältnis bis hin zu 8:1 (♂:♀). Hier wird wahrscheinlich wiederum die klinische Ausprägung eine Rolle spielen und die Differenz des Verhältnisses womöglich überschätzen.

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Genetik

Die ASS weist definitiv eine genetische Komponente auf, da das Syndrom in Familien gehäuft vorkommt mit erhöhter Konkordanz bei eineiigen Zwillingen und erhöhtem Risiko für Geschwister. Ein Kind wird mit einer grösseren Wahrscheinlichkeit autistisch sein, wenn ein Angehöriger betroffen ist.

In Zwillingsstudien gibt es Fälle, bei denen nur ein monozygoter Zwilling autistisch ist und der andere nicht. Autismus ist demnach ‚lediglich’ partiell genetisch, es müssen noch andere Faktoren vorhanden sein, welche für die Erkrankung eine Rolle spielen.

Die Suche nach ursächlich wirkenden Mutationen bleibt offen. Genetische Studien nennen unterschiedliche Gene, welche bei einer ASS beteiligt sind. Sfari.org sammelt beteiligte Gene aus molekulargenetischen Studien, wobei mehr als 100 Gene im Zusammenhang mit Autismus identifiziert wurden. Vermutungen zufolge, handelt es sich bei Autismus demnach nicht um ein einzelnes Gen oder dessen Fehlfunktion. Schaut man sich die genetische Varianz an, welche eine Autismus-Spektrums-Störung erklären kann, scheint es gemäss aktuellem Stand eher eine spezielle Zusammensetzung von Genen zu sein, die zu Autismus führen. Fast 50% der Varianz, welche Autismus genetisch erklären, sind Genvariationen von in der Population häufig vorkommenden Genen.

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Ätiologie

Neben der oben erläuterten erbliche Komponente spielen auch Umweltfaktoren eine gewisse, jedoch untergeordnete Rolle. Sie scheinen eher über die Symptomausprägung und Begleiterscheinungen als über die Erkrankung als solche bestimmen. Die zum Teil noch kursierende Annahme, die MMR-Impfung löse ASS aus, wurde definitiv widerlegt.

Forscher haben sich epigenetische Faktoren aus der Umwelt angeschaut. Darunter finden sich Faktoren wie:

  • Testosteronlevel im Fruchtwasser während er Schwangerschaft

  • Diabetes während der Schwangerschaft

  • Alter der Eltern

  • Geburtskomplikationen

Soziale und psychologische Faktoren werden nicht als ursächlich für die Entstehung der Kernsymptomatik angesehen. Sie spielen aber wahrscheinlich eine Rolle bei der psychosozialen Entwicklung und der phänomenologischen Ausgestaltung der Symptomatik.

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Pathophysiologie

Forschungsergebnisse berichten zwar wiederholt von gewissen Gehirnveränderungen (anatomisch und funktionell), diese sind jedoch nicht eindeutig, sodass sich einige Forscher ‚lediglich’ auf Theorien beziehen, welche psychologische Korrelate bei ASS darstellen. Es sollen folgend sowohl beschriebene Hirnveränderungen als auch die gängigsten Theorien vorgestellt werden.

Anatomische Hirnveränderungen

Studien haben abweichende Hirnreifungsprozesse im Kindesalter dokumentiert. Bei Kindern mit ASS wurde in den ersten vier Lebensjahren eine frühe Phase mit übermässiger Volumenzunahme gefolgt von einer späteren Phase mit einer abrupten Abnahme bzw. einem gehemmtem Wachstum/Stillstand und schliesslich stabilem Verlauf gefunden. Das gesamte Hirnvolumen von Jugendlichen und Erwachsenen soll sich nicht mehr von Menschen mit ASS unterscheiden. Unterschiedliche Hirnregionen sollen bzgl. Hirnreifung jedoch unterschiedlich stark betroffen sein, so bspw. Stirn-und Schläfenlappen. Manche Forschungsergebnisse berichten von Regionen mit verringertem Volumen, verminderter Anzahl an Neuronen und reduzierten dendritischen Verzweigungen wie in der Amygdala, dem Corpus Callosum oder dem Cerebellum (Bölte, 2009). Andere berichten von einer erhöhten Anzahl an Neuronen und erhöhter Konnektivität zwischen den Neuronen bzw. mehr kurzen als langen Nervensträngen im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen.

Strukturelle zerebrale Besonderheiten wurden zwar immer wieder berichtet, die empirischen Befunde reichen dabei aber nicht aus, um einerseits ein konsistentes Muster abzuleiten und andererseits stellen gewisse Befunde wie eine abnormale Entwicklung des Stirnlappens nicht ein störungsspezifisches Merkmal für ASS dar (bspw. finden sich bei der Schizophrenie auch abweichende Entwicklungen im Stirnlappen).

Funktionelle Hirnveränderungen

Ähnlich wie man keine anatomische Auffälligkeit ausfindig machen konnte, welche nur bei Autismus auftreten und bei allen Betroffenen vorhanden sind, verhält es sich für funktionelle Hirnveränderungen, der funktionellen Konnektivität. Dennoch scheinen sich neuronale Systeme, welche mit Symptomen innerhalb der ASS assoziiert sind, im Verlaufe anders zu entwickeln/verknüpfen und zu operieren.

Eine Studie mit je 500 Kindern und Erwachsenen mit ASS und Kontrollpersonen postulieren gewisse neuronale Netzwerke mit verstärkter sowie gewisse Netzwerke mit reduzierter Verknüpfung (Dimartino et al., 2019). fMRI-Messungen bei Jugendlichen und Erwachsenen mit ASS weisen auf eine funktionelle Hypokonnektivität des anterioren und posterioren Kortex sowie des Default-Mode-Netzwerk auf.

Bei Bearbeitung von Aufgaben konnten Warrier et al.  (2017) im fMRI Geschlechtsunterschiede und zusätzlich Unterschiede zu der Hirnaktivität bei ASS beim Reading Mind in the Eyes Test (RMET) finden. Der linke inferiore Gyrus frontalis ist bei Männern weniger aktiv als bei Frauen und bei Autisten noch weniger als bei Männern, was mit Schwierigkeiten im Erkennen von Emotionalen Gesichtsausdrücken einhergeht. Bei einer Aufgabe der Mustersuche gab es ebenso einen Geschlechtsunterschied und zusätzlich eine signifikante Differenz zu autistischen Personen. Der posteriore Kortex war bei Autisten am schwächsten aktiviert, was – bei besseren Leistungen – mit einer erhöhten Effizienz einherzugehen scheint. Diese Unterschiede werden oftmals mit dem Begriff des männlichen Gehirns i.R. der abweichenden Hirnentwicklung bei Autisten verknüpft, welches eher auf systematisierendes, rationales Denken als auf soziale Einfühlungsvermögen ausgerichtet ist.

Mottron formulierte eine Aussage, bei der nicht nur Defizite bei Autisten zu tragen kommen. Er schildert, dass das Gehirn eines Autisten schlichtweg auf andere Dinge spezialisiert sei. So findet sich bspw. eine stärkere Aktivierung des visuellen Kortex bei Aufgaben zur Mustererkennung. Teile des präfrontalen Kortex, welche u.a. für die Selektion von Reizen sowie die Aufmerksamkeitsleitung zuständig sind, zeigen sich vermindert aktiv. 

Die empirische Befundlage ist jedoch noch nicht ausreichend (konsistent), um die neuronalen Mechanismen der Störung zu verstehen – falls dies bei dem Spektrum an Ausprägungen überhaupt möglich ist. Das gleiche gilt für berichtete biochemische Anomalien, wie der Hypothese, dass bei Autisten eine Hyperserotoninämie (verstärkte zentralen und peripheren synaptischen Serotoninwirkung) (Ebert, 2013).

Nebst Befunden aus bildgebenden Studien (fMRI) wurden in der Literatur Abweichungen bei evozierten Potentialen (qEEG) berichtet. So kann eine erhöhtes P300 Novelty gefunden werden, als Ausdruck einer verstärkten Orientierungsreaktion wahrscheinlich Korrelat der Hochsensibilität.

Theorien

(1) Theory of Mind (ToM)

Dieses Modell wurde erstmals von Premack et al. 1978 beschrieben. Darunter versteht man die Fähigkeit, mentale Modelle und Theorien über emotionale und intentionale Zustände anderer Menschen generieren zu können. Grundlage ist das Vermögen, eigenes Wissen und Überzeugungen von den Gefühlen, Gedanken und Intentionen anderer Menschen unterscheiden zu können. Des Öfteren wird ToM in zwei Komponenten eingeteilt, wobei obige Ausführungen der kognitiven Komponente entsprechen. Die zweite Komponente beinhaltet die adäquate Reaktion (emotional) in der zwischenmenschlichen Interaktion. Gemäss Baron und Kollegen (1995) sind Einbussen in der ToM als Ursache der interaktionellen Schwierigkeiten bei ASS zu verstehen.

(2) Theorie der schwachen Kohärenz

Die von Frith (1989) postulierte Theorie postuliert, dass bei ASS die globale Informationsverarbeitung weniger gut gelingt, bzw. der Vernetzungsgrad der Informationsverarbeitung reduziert ist. So weisen Betroffene Schwierigkeiten auf, Einzelinformationen zu vernetzen und gesamthaft zu integrieren. Gegenteilig werden jedoch Detailinformationen und partikuläre Aspekte z.B. der visuellen oder auditorischer Systems bevorzugt bzw. intensiver verarbeitet. Dies soll die besondere Begabung von Teilleistungsfertigkeiten (Detailerkennung in Bildern, Mnestik, o.Ä.) erklären. Es ist aber nicht davon auszugehen, dass die globale Verarbeitung nicht möglich wäre, sondern dass die lokale bevorzugt wird.

(3) Theorie der Exekutiven Funktionen

Diese Theorie wurde im Zusammenhang von Überschneidungen der Defizite bei ASS bei Untersuchungen mit Frontalhirnpatienten geäussert. Dabei soll das hierarchisch organisierte System, welches für die Informationsverarbeitung höherer kognitiver Funktionen (mentale organisatorische Aufgaben wie Handlungsplanung, Konfliktmonitoring, Antworthemmung, mentale Flexibilität etc.) zuständig ist, bei ASS beeinträchtigt sein und zu Defiziten in der sozialen Perzeption und Kognition führen.

Alle Modelle scheinen ihre Berechtigung zu haben bzw. sich zu ergänzen und nicht zwingend gegenseitig zwingend auszuschliessen. Bisher konnte jedoch keine der Theorien eigenständig, hinreichend und umfassend die Abweichungen der Autismus-Spektrums-Störungen erklären (Ebert, 2013).

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Klinik des Aspergersyndroms

Hier soll schwerpunktmässig die klinische Symptomatik des Aspergersyndroms dargestellt werden, da die anderen Formen im Rahmen einer neuropsychiatrischen Sprechstunde Erwachsener selten gesehen werden.

Beim Asperger-Syndrom zeigen sich klinische Aspekte äussert variabel. Obwohl sich das Asperger-Syndrom im Kindesalter manifestiert, kommt es nicht selten vor, dass ein Teil der Betroffenen erst im frühen (bis mittleren) Erwachsenenalter beim Arzt vorstellig wird. Sie suchen weniger wegen der Grundsymptomen als vielmehr wegen Problemen in Beruf, Alltagsbewältigung oder psychischen Störungen erstmals Hilfe. Die Symptomausprägungen der Kernsymptome können dann sehr unterschiedlich sein.

Bei vorhandenen kompensatorischen Ressourcen, hohen kognitiven oder sprachlichen Fertigkeiten sowie Kompensationsstrategien können Defizite in der sozialen Interaktion ausgeglichen werden. Entsprechend können Blickkontakt, Modulation der Stimme oder die Fähigkeit zum Small Talk insgesamt unauffällig erscheinen. Dennoch findet sich die Trias der Kernsymptome :

  1. Mangelnde Fähigkeit des nonverbales Verhaltens (z.B. Blickkontakt, Soziales Lächeln, Körpersprache, Mimik) zur Regulation soz. Interaktion zu nutzen oder Beziehungen (zu Gleichaltrigen) aufzubauen (geteilte Freude, sozio-emotionale Gegenseitigkeit, Erkennen soz. Normen)

  2. Ungewöhnliche Art zu sprechen (Prosodie, Modulation), Unfähigkeit sprachlichen Austausch zu beginnen oder im gegenseitigen Interesse aufrecht zu erhalten (grosser Wortschatz, pedantisch oder altklug; Sprechen ohne Anpassung ans Gegenüber, Wortwörtliche Interpretation)

  3. Ungewöhnlich ausgeprägte, spezielle Interessen/Stereotype (Auffällige Themen und Intensität der Beschäftigung damit und keine Zeit für anderes zu haben, zwanghaftes Festhalten an nicht-funktionalen Handlungen/Ritualen, motorische Manierismen)

Nebst vermindertem Blickkontakt, fehlender Modulation in der Stimme und der Schwingungsfähigkeit oder umgekehrt das Vorhandensein von Manierismen, kann das Verhalten des Gegenübers das Gefühl der Fremdheit und Distanziertheit auslösen. Einige Betroffene wirken unnahbar, verschroben, rätselhaft und handeln eigen. Wiederum andere wirken im Kontakt sehr korrekt, dabei aber eher technisch. Ferner sollte auf soziale Normen und Konventionen geachtet werden, welche unbewusst und unabsichtlich missachtet oder übersehen werden. Gewisse Asperger-Autisten verhalten sich ruhig und zurückhaltend, eingeschüchtert, andere hingegen sprechen besonders viel, bspw. über Ihre Interessen oder Ansichten, ohne jedoch interagierend zu kommunizieren und ungeachtet der Angemessenheit des Kontext oder der Reaktion des Gegenübers und wirken phänomenologisch querulatorisch oder exzentrisch-/fanatisch (narrativer Autismus).

Oft finden sich bei Asperger-Autisten aufgrund einer langen oder zudem. längeren Leidensgeschichte Komorbiditäten, soziale Isolierung, psychosoziale Probleme am Arbeitsplatz oder zunehmenden Schwierigkeiten den Alltag zu bewältigen und Ähnliches vor.

Die häufig berichtete Inselbegabung ist eher die Ausnahme und beschreibt kein zwingendes Kennzeichen von Autismus, sondern gehört zum Savant-Syndrom. Es gibt sicherlich eine Überschneidung, da rund die Hälfte der Savants Autisten sind, aber nicht jeder Autist ist ein Savant, sondern nur ungefähr einer aus zehn.

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Diagnostik

Häufig suchen Betroffene mit unauffälligem kognitivem Leistungsniveau erst im Erwachsenenalter ärztliche Hilfe auf. Eine Autismus-Störung kann dann schwieriger zu diagnostizieren sein,

  • weil nicht genügend Informationen über die Kindheit gegeben werden (bzw. nicht adäquat, da Auffälligkeiten von der Person selbst nicht wahrgenommen) und/oder

  • weil die Kernsymptome weitgehend kompensiert oder zurückgetreten sein können und/oder

  • weil sekundäre bzw. weitere Symptome und Komorbiditäten ein psychopathologisches Mischbild erzeugen.

Bei den Autismus-Spektrums-Störungen handelt es sich um klinische Diagnosen. Wird eine Person vorstellig, ist eine sorgfältige psychiatrische Untersuchung wichtig. Nebst Beurteilung der Kern- und Nebensymptome und des Wissens über die mögliche Dynamik dieser sowie der Einbeziehung der differentialdiagnostischen Möglichkeiten, können folgende Mittel angewandt werden:

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Für den Frühkindlichen- oder Atypischen Autismus fallen die Screening-Verfahren weg. Dort spielen vor allem anamnestische Informationen der nächsten Bezugspersonen als auch Verhaltensbeobachtungen eine Rolle. Bei Unsicherheit oder Verdacht auf eine organische Krankheit können zusätzliche diagnostische Verfahren angewandt werden (siehe weiter unten).

Zum Ausschluss organischer psychischer Störungen können nebst Labordiagnostik auch MR-Bildgebung und EEG als basisdiagnostische Mittel zum Einsatz kommen.

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Differentialdiagnose

Differentialdiagnose Frühkindlicher Autismus (und Atypischer Autismus)

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Differentialdiagnose Asperger-Syndrom

Tabelle Differentialdiagnose Asperger-Syndrom.png
 

Therapie

Nicht jede Person mit einer Autismus-Spektrums-Störung benötigt therapeutische Betreuung, bspw. milde Formen oder Verlaufsformen mit kompensierten oder zurücktretenden Symptomen. Ferner kann die soziale Umgebung mit den kommunikativen Defiziten weitgehend kompatibel sein, weswegen kein Leidensdruck entsteht. Bei guter Adaptation oder tolerabler Umgebung besteht keine Notwendigkeit einer Behandlung.

Manchmal kann bereits das Stellen der Diagnose eine grosse Entlassung für den Patienten und das Umfeld darstellen. Das Anders-Sein bekommt einen Namen, eine Erklärung. Dinge werden für alle Beteiligten besser verständlich, man kann besser mit schwierigen Situationen umgehen oder es gelingt den Betroffenen sogar, einen positiven Bezug zum Anders-Sein zu entwickeln und auch die positiven Aspekte wahrzunehmen. Dies kann an sich bereits von hohem therapeutischem Wert sein.

Für Personen, die mässig bis schwer betroffen sind, die selbst grossen Leidensdruck i.R. des Störungsbildes empfinden oder die im Beruf anecken oder Schwierigkeiten in der Alltagsbewältigung aufweisen, ist eine Behandlung wünschenswert.

Sinnvoll wäre sicherlich eine multimodale therapeutische Einbindung, welche jedoch nicht immer gegeben ist. Das therapeutische Angebot hält sich in Grenzen und beinhaltet eine grössere Bandbreite für das Kindesalter. Im Kindesalter liegen vor allem medizinische, heilpädagogische, teils medikamentöse und andere Methoden vor. Bei Erwachsenen liegt der Fokus eher auf Psychoedukation, auf Konzepten zum Training sozialer Kompetenzen und teilweise Psychopharmaka, v.a. auch zur Behandlung von psychischen Folgeerkrankungen.

Es ist keine kausale Therapieform vorhanden, verschiedene Optionen, welche dennoch zur Verfügung stehen, sollen folgend vorgestellt werden.

Medikamentöse Therapieoptionen

Es gibt kein spezifisches Medikament für eine ASS. Eine symptomatische Therapie ist nur bedingt möglich, kann in gewissen Fällen aber eine Milderung erzielen. Psychotrope Substanzen werden bspw. zur Reduktion der Defizite in der Emotionsregulation und Erregbarkeit, im Rahmen repetitiver Verhaltensmuster oder bei psychotisch Tendenzen verabreicht. Generell ist bei Medikamentengabe darauf zu achten, dass niedrige Dosierungen gewählt werden, da Betroffene oftmals sehr sensibel reagieren. Zudem sollte, wenn unabdingbar, mit einer medikamentösen Behandlung nicht vor dem Grundschulalter begonnen werden.

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Ferner sind Komorbiditäten (medikamentös) entsprechend zu behandeln (z.B.: Depression mit SSRIs od. Venlafaxin).

Allenfalls eröffnet das Ocytocin neue Behandlungsmöglichkeiten. Das Hormon stärkt die Bindung und das Vertrauen zwischen Menschen. Erste Studien konnten nun zeigen, dass Oxytocin die Fähigkeit, Emotionen in Gesichtern und Augenpartien zu lesen, verbessern kann.

Psychotherapeutische Verfahren

Da keine spezifische Medikation indiziert ist, sind verhaltensmedizinische/therapeutische Interventionen von zentraler Bedeutung. Deren Zielsetzung liegt:

  • in der Förderung der Selbstakzeptanz und Akzeptanz durch andere

  • im Erlernen von Umgehungsstrategien bzgl. mentaler Kerndefizite (v.a. bei Betroffenen Kindern auch Eltern)

  • die Fähigkeit der Emotionsregulation zu stärken

  • in der Hilfestellung zu Lebensplanung und Lebensbewältigung

  • Ressourcen zu aktivieren und erfolgreich anzuwenden

Zum Einsatz kommen einzel- oder gruppentherapeutische Verfahren, ambulante und stationäre Interventionen sowie schulische und häusliche Unterstützung.

Vorhandene Therapiekonzepte beziehen sich v.a. auf Autismus-Formen im Kindes- und Jugendalter. Zugleich basieren diese oft auf der positiven Beeinflussung der Symptome bei kognitiven Beeinträchtigungen (Frühkindlichen Autismus), und sind deshalb für Personen mit dem Asperger-Syndrom oder generell unauffälligem kognitivem Funktionsniveau nicht geeignet.  

Das Angebot spezifischer Therapiemanuale für Betroffene im Erwachsenenalter ohne kognitiven Einbußen (Asperger-Syndrom, hochfunktionaler Autismus) ist gering. Genannt werden kann das 2013 entwickelte FASTER (Freiburger aspergerspezifische Therapie für Erwachsene), welches als Einzel- oder Gruppentherapie darauf abzielt, verhaltenstherapeutische, psychoedukative, übende und sozialpsychiatrische Elemente zu enthalten, um der Besserung der umfassenden Defiziten gerecht zu werden.

Ansonsten können ambulante psychotherapeutische Sitzungen wertvoll sein. Dort können individuell angepasste Themenbereiche gemeinsam mit dem Patienten behandelt werden. Wichtig scheinen Psychoedukation, Förderung der sozialen Kompetenz, und Unterstützung der Schwierigkeiten im alltäglichen Leben. Ferner könnten Gruppentherapien hilfreich sein, um die Akzeptanz zu fördern und das „Anders sein“ zu relativieren.

Je nach Schweregrad und Bedarf können Neurostimulationsverfahren wie Neurofeedback - alleinig oder in Kombination mit einer parallel durchgeführten Psychotherapie - Symptome wie Erregbarkeit durch Umweltreize (sensorisch), Emotionsregulation oder Aufmerksamkeit- und Planungsdefizite zu mildern du den Patienten zu stabilisieren.

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Verlauf und Prognose

Autismus-Spektrum-Störungen sind per se nicht heilbar. Die Verläufe stellen sich nach Subtyp unterschiedlich dar.

Der Frühkindliche Autismus weist eine ungünstigere Prognose als das Asperger-Syndrom auf. Es findet sich ein kontinuierlicher Verlauf und lebenslanges Persistieren der Kernsymptome. Aufgrund der häufig auftretenden kognitiven Beeinträchtigung und einer hohen Personenrate (50%), welche nie sprechen lernen, sind die Betroffenen in den meisten Fällen auf lebenslange engmaschige Betreuung angewiesen.

Beim Asperger-Syndrom findet sich eine höhere Variabilität des Verlaufes. Die Kernsymptome bleiben qualitativ vorhanden, können sich jedoch im Verlauf verbessern. Die Ausprägung der Symptome könnte sogar lediglich mild sein, sodass Personen Routinen im Alltagsleben finden, welche für sie und in ihrem Umfeld funktionieren. Aufgrund der Spezialinteressen bzw. dem z.T. hohem technisch-mathematischem Interesse finden die Personen ihre (berufliche und private) Nische.

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Ausblick

Mit wachsender Aufmerksamkeit und Popularität des Syndroms stellen sich wahrscheinlich vermehrt Menschen mit immer geringerer Ausprägung aber auch stärkerer Ausprägung aufgrund erhöhter gesellschaftlicher Akzeptanz und Zuordnungsmöglichkeit beim Arzt vor.

Das Verständnis als Spektrum birgt Schwierigkeiten in der ätiologischen Begründung als auch der Objektivierung mit sich. In Zukunft sollen womöglich Algorithmen mit künstlicher Intelligenzen verwendet werden, um spezifische Muster zu erkennen. Aus grossen Datenpools sollen Computerprogramme Zusammenhänge erkennen, verallgemeinern und auf neue Daten anwenden. Man erhofft sich damit das Störungsbild einerseits geschlechts- und altersunabhängig und andererseits effizient und zuverlässig identifizieren zu können. Um dem gesamten ASS-Spektrum gerecht zu werden, sind wahrscheinlich mehrerer Algorithmen für verschiedene Alters- und Intelligenzgruppen und Geschlechtertrennung notwendig.

Andererseits bilden sich neuere Bewegungen aus, welche Neurodiversität proklamieren. Analog zum Begriff der Biodiversität verstehen sie Autismus als Eigenart oder Teil der Person und deren Persönlichkeit, welche seine Richtigkeit und seine Wichtigkeit aufweise (autistische vs. neurotypische Menschen). Der Fokus soll weniger auf dem Heilen der Betroffenen als vielmehr auf dem Umgang mit den Schwierigkeiten (wie kann ich meine Bedürfnisse kommunizieren? Wie meistere ich ein Bewerbungsgespräch? Was kann ich tun, wenn mich Sinneseindrücke überfluten?) aber auch auf den positiven Aspekten und Stärken liegen, um eine optimale ‚Eingliederung’ in das gesellschaftliche System zu schaffen und somit den Leidensdruck der Person zu minimieren als auch den Umgang mit dem Umfeld zu optimieren.

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Literatur

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