"Neurology and Religion" von Alasdair Coles und Joanna Collicutt (Hrsg.)

 
 
 

Alasdair Coles und Joanna Collicutt (Hrsg.)

Neurology and Religion

Die Herausgeber präsentieren in diesem Buch eine Sammlung von Aufsätzen, welche alle die “Neurologie der Religion” aus verschiedenen Perspektiven untersuchen. In keinem der Beiträge geht es darum, religiöses Erleben als Ausdruck einer krankhaften Hirnfunktionsstörung aufzufassen; nur am Rande wird Religiosität auch als Möglichkeit diskutiert, Krankheiten und deren Genesung eine Bedeutung zu geben. Hauptthema ist vielmehr, wie neurologische Krankheiten Glaube, Spiritualität und das ‘Erleben des Göttlichen’ verändern können und was daraus über die neuronalen Mechanismen dieses Erlebens abgeleitet werden kann. Was ich dazu notiert habe:

  • Veränderte ‘Existential feelings’ bei neuropsychiatrischen Erkrankungen
    Gemäss dem Konzept der ‘Existential feelings’ (Existenzielle Gefühle) von Matthew Ratcliffe vermitteln diese ein Erleben der Welt als einem strukturierten Raum mit Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten. Eine Gemeinsamkeit aller neuropsychiatrischer Erkrankungen kann nun darin gesehen werden, dass diese existentiellen ‘Hintergrundgefühle’ erodieren und damit das sie zu einer Veränderung der Ich-Erfahrung und des Erlebens der eigenen Beziehung zur Umwelt führen. Je nach religiöser Erziehung kann dieses veränderte Erleben dann als ‘göttlich verursacht’ interpretiert werden.

  • Ozeanischer Frieden, Universalität und Ekstase bei Temporallappenepilepsie
    Waxmann und Geschwind prägten den Begriff des „interictal behavior syndrome“ (auch Waxmann-Geschwind-Syndrom genannt), welches Verhaltensänderungen von Patientinnen und Patienten mit Temporallappenepilepsie beschreibt: erhöhte Religiosität, Vielschreiben (Hypergraphie), Klebrigkeit oder Zähflüssigkeit und Hyposexualität (vermindertes Interesse an sexuellem Verhalten). Ausgehend von den Erfahrungen von Dostojevski (litt an einer Temporallappenpilepsie und beschreibt das Anfallserleben in ‘Der Idiot’) wird in einem Kapitel herausgearbeitet, wie der Aura von Termporallappenanfällen ein Gefühl eines ozeanischen Friedens, Universalität, Ekstase, Bedeutung und Sinnhaftigkeit gemeinsam ist. Dies kann als intensiviertes ‘Existential feelings’ beschrieben werden. Dass dies zu Hyperreligiosität führt ist aber selten und ist nur dann anzutreffen, wenn die Betroffenen religiös erzogen wurden.

  • Psychedelische Substanzen und Desintegration des DMN
    Ein Effekt psychedelischer Substanzen ist die sogenannte ‘Ich-Auflösung’. Beschrieben wird ein ‘Gefühl, mit dem Universum eins zu sein’, ähnlich dem von religiösen Mystikern berichteten Erleben im Rahmen kontemplativer Ekstasen. Es konnte gezeigt werden, dass Substanzen wie Psilocybin, Ayahuasca und LSD die funktionelle Konnektivität des DMN (Default Mode Network, Ruhezustandsnetzwerk) desintegrieren. Dieses Netzwerk ist aktiv, wenn wir uns mit uns, unserer Biographie und Zukunft befassen und ist bei Depressionen typischerweise überaktiviert (negatives Grübeln über die eigene Vergangenheit und Zukunft). Denkbar ist, dass die Desintegration und damit Deaktivierung des DMNs auch dem antidepressiven Effekt bei der Anwendung niedrig dosierter Psychedelika zugrunde liegt.

  • Out-of-body Experience als Nahtoderfahrung
    Die Stimulation des Übergangsgebiets zwischen Temporal- und Parietallappen (TPJ; temproparietal junction) löst eine out-of-body experience (außerkörperliche Erfahrung; sich selbst von aussen sehen) aus. Dies wird regelmässig von Menschen mit Nahtoderfahrungen berichtet. Möglich, dass im Rahmen der Wiedererlangung des Bewusstseins dieses Hirnareal zuerst reaktiviert und damit dieses Erleben ausgelöst wird. Häufig wird diese ausserkörperliche Erfahrung als religiöse Erfahrung gewertet.


Coles A, Collicutt J. Neurology and Religion. 1. Aufl. Cambridge, United Kingdom ; New York, NY: Cambridge University Press; 2019. 316 S.