"Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint" von Carlo Rovelli

 
 
 

Carlo Rovelli

Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint

Dass die Welt nicht “so ist”, wie wir sie wahrnehmen, dass unsere Begrifflichkeit die Natur im ganz Grossen und im ganz Kleinen nicht zu beschreiben vermag, ist nicht neu. Seit über hundert Jahren beschreiben die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik diese Bereiche erfolgreich und in unzähligen Büchern wird versucht, diese Theorien uns Laien näher zu bringen. Das Buch von Rovelli gefiel mir deshalb besonders gut, weil es den Bogen von der Antike bis heute spannt. Seine Helden sind dabei nicht Aristoteles und das Christentum, sondern Demokrit und Lukrez und deren nicht-teleologisches Denken und deren Humanismus.

In den ersten Kapiteln beschreibt Rovelli die Geschichte der Relativitätstheorie und Quantenmechanik. Im 19. Jahrhundert wurde die Welt mit Raum, Zeit, Feldern und Teilchen beschrieben. Einstein fasste dann auf der einen Seite mit seiner Relativitätstheorie Raum und Zeit zur Raumzeit zusammen. Die Quantenmechanik auf der anderen Seite führte Felder und Teilchen zu Quantenfeldern zusammen. Die Quantengravitation wiederum ist die Theorie, die eine Vereinigung von Relativitätstheorie und Quantenmechanik ermöglicht. Dies allerdings mit der Konsequenz, dass die Teilbarkeit des Raums begrenzt ist. Oder anders ausgedrückt: auch der Raum ist gekörnt. Dabei kann die Ausdehnung dieses kleinsten Raumkorns dadurch bestimmt werden, dass man berechnet, unterhalb welcher minimalen Grösse ein Teilchen in sein eigenes Schwarzes Loch stürzt. Diese kleinste mögliche Länge beträgt dabei:

 
 

G ist die Gravitationskonstante, c die Lichtgeschwindigkeit und" “h quer” das Plancksche Wirkungsqunatum. Diese Gleichung bringt somit die Gravitation, die Relativität und die Quantenmechanik in einen Zusammenhang und zeigt, dass sowohl die Geschwindigkeit, die Länge als auch die Information (Wirkung) beschränkt bzw. endlich sind.

Im letzten und für mich interessantesten Kapitel kommt Rovelli auf den Begriff der Information zu sprechen. Zunächst erläutert er, wie die Information 1948 von Claude Shannon definiert wurde: Information ist ein Mass für die Anzahl der Auswahlmöglichkeiten einer Gegebenheit. Wird ein Würfel mit 6 Zahlen gewürfelt und sieht man dann die Zahl, dann ist die Information 6. Erfährt man das Geburtsdatum einer Kollegin, dann ist die Information 365. Diese Information nach Shannon wird als S bezeichnet und üblicherweise als Logarithmus von N (Anzahl Wahlmöglichkeiten) zur Basis 2 angegeben:

 
 

Für N=2 ergibt sich somit S=1. Die kleinste Informationseinheit liegt also dann vor, wenn es zwei Auswahlmöglichkeiten gibt: ein “Bit”.

Rovelli zeigt auf, dass der Begriff der Information für ein (physikalisches) Verständnis der Welt nützlich (oder gar grundlegend?) sei, weil es die Möglichkeit physikalischer (materieller) Systeme misst, untereinander zu “kommunizieren”. Im Atommodell von Demokrit fehlt etwas. Welche der sich zufällig treffenden Atome verbinden sich? Im Denken von Platon und Aristoteles war dies die “Form” bzw. die “Idee” z.B. des Pferdes, die es in der Welt der Ideen schon immer gab. Gemäss Demokrat sei es die Anordnung der Atome, die die Form ausmachen. So wie es die Reihenfolge der Buchstaben des Alphabetes sind, die es ausmachen, ob eine Tragödie oder eine Komödie entsteht. Aber wer ist denn der “Zuhörer” bei der Anordnung von Atomen? Die Art, in der sich eine Menge Atome anordnet, kann mit der Art korrelierten, in der sich eine andere Menge Atome anordnet. Die eine Menge von Atomen kann somit Information über eine andere Menge von Atomen enthalten.

Ein Lichtstrahl enthält Information über das Objekt, von dem es Ausging. Die Farbe des Meeres enthält Information über die des Himmels und eine Zelle birgt Information über das Virus, das sie angegriffen hat. Wenn man einen Text liest, dann besteht ein Zusammenhang zwischen Abläufen in meinem Gehirn und denjenigen im Gehirn des Autors zum Zeitpunkt des Schreibens.

Die Welt sei also nicht nur ein Netzwerk von Atomen, sondern auch ein Netzwerk von Korrelationen, ein Netzwerk von Informationen, die physikalische Systeme übereinander jeweils in sich tragen.

Zwischen dem eben aufgezeigten Informationsbegriff und dem Begriff der Wärme besteht ein Zuammenhang, der im 19. Jahrhundert durch Ludwig Boltzmann aufgezeigt wurde. Wärme ist die mikroskopische Bewegung von Molekülen. Wenn sich die Wassermoleküle in einer Tasse schnell bewegen, so ist z.B. der Tee heiss. Warum kühlt der Tee ab, wenn die Luft kühler ist als der Tee? Boltzmann zeigte, dass die Anzahl möglicher Zustände einer heissen Tasse und einer kühlen Umgebung grösser ist als einer kühleren Tasse und einer wärmeren Umgebung. Da die Teilchen mikroskopisch klein sind und wir die Zustände nicht kennen, formulierte er die Möglichkeiten W bzw. denren Logarithmus zur Basis 10 (auch als S bezeichnet) als Mass für die (uns fehlende) Information über dieses System:

 
 

Es müsste also mehr (uns fehlende) Information entstehen, wenn die Tasse noch wärmer würde. Informationsgehalt kann aber nie von alleine entstehen. Diese Grösse der Information fällt dabei mit dem Begriff der Entropie zusammen. Die Entropie ist die (mit einem Minuszeichen versehende) Informationsmenge und kann in einem geschlossenen System nur zunehmen (die Information nimmt ab).

Die Ableitung der Wärmelehre aus dem Konzept der Information sei weitgehend akzeptiert. Viele Physiker würden aber die Anwendung des Informationsbegriffes auf die Quantenwelt kritisch sehen. Die Quantenmechanik lasse sich jedoch in Begriffen der Information so verstehen:

“Ein physikalisches System manifestiert sich immer nur in der Wechselwirkung mit einem anderen. Folglich wird ein solches System immer in Bezug auf ein anderes beschrieben, mit dem es wechselwirkt. Jedwede Zustandsbeschreibung eines physikalischen Systems ist folglich stets eine Beschreibung der Information, die das eine System über das andere beinhaltet.”

Die Information, die wir über ein System besitzen ergibt sich aus der Wechselwirkung mit ihm. Wegen der Unbestimmtheit können wir mit jeder Wechselwirkung neue Information gewinnen, wegen der Endlichkeit der Information muss aber immer auch Information verloren gehen irrelevant werden.

Dass sich der Informationsbegriff gut für das Verständnis der Quantenrealität eigne, habe als Erster John Wheeler, der Vater der Quantengraviation erkannt und mit der Aussage “It from bit” auf den Punkt gebracht. Dies bedeutet ungefähr: “Alles ist Information”.


Rovelli C. Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint: Eine Reise in die Welt der Quantengravitation. 5. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Buchverlag; 2016. 320 S.