"Mensch werden: Eine Theorie der Ontogenese” von Michael Tomasello
Michael Tomasello
"Mensch werden: Eine Theorie der Ontogenese”
In „Mensch werden“ fasst Tomasello seine umfassende Theorie darüber zusammen, wie Kinder im Laufe ihrer Entwicklung zu vollwertigen Mitgliedern einer menschlichen Kultur werden. Dafür verbindet er Erkenntnisse aus Entwicklungspsychologie, Anthropologie, Kognitionswissenschaft und Evolutionsbiologie. Insgesamt ein sehr interessantes und inspirierendes Buch, wenn es auch für mich stellenweise schwierig zu lesen war, da sehr viele Forschungsergebnisse enthalten sind.
Was mir geblieben ist:
Der Mensch wird nicht einfach biologisch „geboren“, sondern entwickelt sich durch soziale Interaktion und kulturelle Einbettung zu einem Menschen. Er wächst in eine Welt voller geteilter Bedeutungen, Normen und Werte hinein.
Das bringt Tomasello auf den Punkt mit dem Satz: „Ein Fisch erbt nicht nur Flossen, sondern auch das Wasser.“
Menschenkinder erben nicht nur ihre biologische Ausstattung, sondern werden auch in eine bestehende soziale und kulturelle Umwelt hineingeboren. Diese Umwelt formt sie – genauso wie ein Fisch nicht nur Flossen, sondern auch ein Wasser-Ökosystem „mitbekommt“. So hängt das Menschwerden (Ontogenese) also wesentlich von der Interaktion mit der Umwelt, mit Artefakten, Symbolen und Institutionen ab. Dabei durchlaufen Kinder gemäß Tomasello in ihrer Ontogenese drei große „sozial-kognitive Revolutionen“, die sie nach und nach zu vollständig „kulturellen“ Menschen machen.
Geteilte Intentionalität (ca. 9 Monate):
Kinder beginnen, mit anderen gemeinsame Ziele und Aufmerksamkeit zu teilen – z. B. beim gemeinsamen Spielen oder Zeigen.Kooperative Kommunikation (ab 1 Jahr):
Sprache, Gesten und das Verstehen von Absichten entwickeln sich stark – Kinder lernen, sich in andere hineinzuversetzen und gemeinsam zu handeln.Kulturelle Normen und Rollen (ab 3–5 Jahren):
Kinder begreifen soziale Normen, Regeln und moralische Verpflichtungen – sie verstehen sich als Teil einer Gemeinschaft mit bestimmten Erwartungen.
Für die Entwicklung von der dyadischen (zwei Individuen teilen eine Absicht) über die kollektive (eine große Gemeinschaft teilt Absichten) Intentionalität zum vollwertigen Mitglied einer Gesellschaft, das sich an die Normen hält, bedarf es der „exekutiven Funktionen“. Diese ermöglichen die kognitive Selbstüberwachung und die motivationale Selbstregulation.
In seinem Buch zeigt Tomasello, dass der Mensch nicht bloß ein „individuelles Gehirn mit Verstand“ ist, sondern dass das Menschsein wesentlich durch sozial geteilte Erfahrungen entsteht. Kultur ist demnach kein „Add-on“, sondern der Raum, in dem menschliche Fähigkeiten überhaupt erst voll zur Entfaltung kommen.
Tomasello M. Mensch werden: Eine Theorie der Ontogenese. 3. Aufl. Berlin: Suhrkamp Verlag; 2020. 542 S.