Einführung Diagnostik & Therapie

Prinzipien der Neuropsychiatrie

Die Neuropsychiatrie befasst sich mit den neurologischen Grundlagen psychischer Störungen,
um daraus Erkenntnisse für Diagnostik und Therapie zu gewinnen.


Seit über hundert Jahren gehen die Neurologie und die Psychiatrie getrennte Wege. Die Neurologie beschäftigt sich primär mit organisch nachweisbaren Erkrankungen des Gehirns, wie beispielsweise Entzündungen, Infektionen, Stoffwechselstörungen, Blutungen oder Tumoren. Die Psychiatrie konzentriert sich dagegen auf „psychische” Symptome und versucht, diese losgelöst vom Gehirn zu verstehen und zu behandeln.

 
 

Bereits im 19. Jahrhundert gab es jedoch Bemühungen, psychiatrische Erkrankungen neurologisch zu erfassen. Berühmt ist die Aussage „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten” von Wilhelm Griesinger. Im 20. Jahrhundert gab es Anstrengungen, die Psychiatrie mit neurologischen Konzepten zu behandeln. Fehlende Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie (Bildgebung, Genetik, direkte Einflussnahme auf neuronale Netzwerke) sowie eine sicherlich gerechtfertigte kritische Einstellung gegenüber allzu materialistisch-biologistischen Konzepten behinderten jedoch das Zusammenwachsen der Fächer. Ausgenommen davon waren immer Erkrankungen, die als klar neurologisch gelten und dennoch unbestritten zu kognitiven, emotionalen und Verhaltensdefiziten führen. Dazu zählen Epilepsien, neurodegenerative Erkrankungen (z. B. Alzheimer-Krankheit, frontotemporale Demenz und Huntington-Krankheit) sowie Basalganglien-Erkrankungen (z. B. Morbus Parkinson und das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom). Umgekehrt befasst sich die Psychosomatik mit körperlichen Symptomen als Folge psychischer Störungen, insbesondere mit Stressfolgekrankheiten.

 
 

Die Fortschritte der (kognitiven) Neurowissenschaften tragen zunehmend dazu bei, die neuronalen Fehlfunktionen bei Depressionen, Psychosen, Ängsten und Zwängen zu verstehen. Auf dieser Grundlage können die gewonnenen Erkenntnisse in Diagnostik und Therapie genutzt werden.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Neuropsychiatrie davon ausgeht, dass alle psychischen Störungen primär biologisch verursacht sind. Vielmehr besagt sie, dass jedem psychischen Zustand ein neuronales Korrelat entspricht. Neuropsychiatrie bedeutet auch nicht, dass keine psychotherapeutischen Methoden zum Einsatz kommen können. Denn auch psychologische Interventionen wirken auf neuronale Netzwerke und können somit Fehlfunktionen korrigieren.

 
 

Die Grundannahmen der Neuropsychiatrie lassen sich – in Anlehnung an J. L. Cummings – wie folgt zusammenfassen:Jedem psychischen Zustand entspricht ein neuronales Korrelat, denn die Hirnstruktur und -funktion ist bio-psycho-sozial bedingt.

  • Alle neuropsychiatrischen Syndrome (d. h. alle Störungen von Verhalten und Erleben, defizitär oder produktiv) sind Ausdruck einer regionalen oder globalen Dysfunktion des Gehirns.

  • Eine Hirndysfunktion kann strukturell („Schaltkreis“) oder synaptisch/chemisch („Regelkreis“) sein.

  • Eine Hirndysfunktion ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Entstehung neuropsychiatrischer Syndrome.

  • Eine für ein Individuum einzigartige Verhaltensauffälligkeit ist eher „psycho-sozial“ bedingt („Regelkreis“, „psychodynamisch“).

  • Eine zwischen Individuen invariante Verhaltensauffälligkeit ist eher Ausdruck einer „biologischen“ Affektion des Gehirns („Schaltkreis“, „neurologisch“).

  • Biologische Affektionen des Gehirns verursachen typischerweise kombinierte neuropsychiatrische Syndrome (zum Beispiel ein depressives Syndrom kombiniert mit Aphasie und Hemiparese rechts).

  • Sowohl Psycho- als auch Somatotherapie wirken über eine Beeinflussung der Hirnstruktur/-funktion.

  • Der Begriff „Neuropsychiatrie” meint nicht „biologistische Psychiatrie”, sondern er will alles „Psychiatrische” und „Neurologische” als Phänomene eines Kontinuums denken und verstehen.

 
 

Damit ist das Leib-Seele-Problem natürlich nicht gelöst. Dennoch ist es wichtig, sich diese Grundannahmen zu vergegenwärtigen, wenn man über Zusammenhänge zwischen klinischen Symptomen und neuronalen Zuständen spricht.


Cummings JL, Trimble Michael R. Concise Guide to Neuropsychiatry and Behavioral Neurology. American Psychiatric Publishing; 1995.