Krankheitsbilder | Neuromentale Entwicklungsstörungen
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
(ICD-11 6A05)
Die ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist eine neurobiologische
Entwicklungsstörung, die sich durch anhaltende Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und/oder
Impulsivität äußert und neben der Kognition auch die emotionale Selbstregulation
sowie soziale Verhalten beeinträchtigen kann.
Definition
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine neurobiologische Entwicklungsstörung der Selbstregulation. Sie manifestiert sich in verschiedenen Bereichen der Aufmerksamkeit, der Exekutivfunktionen und der Impulssteuerung, wobei diese Dimensionen je nach Person unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Die Symptomatik beginnt in der Kindheit und kann ein Leben lang bestehen bleiben, wobei sich die äußere Erscheinungsform mit zunehmendem Alter oft deutlich verändert.
ICD-11 unterscheidet nicht mehr feste Subtypen wie das ICD-10, sondern Präsentationen, je nachdem, welche Symptomgruppe dominiert:
Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, kombiniert (ICD-11 6A05.2)
Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend unkonzentriert (ICD-11 6A05.0)
Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend hyperaktiv-impulsiv (ICD-11 6A05.1)
nicht näher bezeichnet (ICD-11 6A05.Z)
Diagnostische Kriterien
1. Beginn meistens, aber nicht zwingend, in den ersten fünf Lebensjahren. Die Symptomatik muss während mindestens 6 Monaten vorliegen.
2. Anhaltendes Muster von Unaufmerksamkeitssymptomen und/oder einer Kombination von Hyperaktivtäts- und Impulsivitätssymptomen.
3. Sie Symptomatik hat ein mit dem Entwicklungszustand nicht zu vereinbarendes Ausmass.
4. Die Symptome treten in mindestens zwei Situationen/Umgebungen auf (z.B. zu Hause, in der Schule, am Arbeitsplatz)
5. Die Symptome wirken sich direkt negativ auf schulische, berufliche, soziale Aktivitäten oder den Alltag aus.
Symptomatik
Unaufmerksame Symptome zeigen sich häufig in einer verminderten Fähigkeit, die Aufmerksamkeit über längere Zeit aufrechtzuerhalten, insbesondere bei monotonen oder wenig belohnenden Aufgaben. Betroffene lassen sich leicht ablenken, verlieren Dinge, haben Schwierigkeiten, Arbeitsabläufe zu organisieren, vergessen Termine oder Handlungen und benötigen oftmals mehr Zeit oder Unterstützung, um Aufgaben zu erledigen. Die Konzentration kann jedoch in hochinteressanten Situationen („Hyperfokus“) übermäßig stark gebündelt sein. Dieses Merkmal wird häufig missverstanden, was zu Fehldeutungen führen kann, dass Betroffene „eigentlich kein Aufmerksamkeitsproblem“ hätten.
Hyperaktive Symptome zeigen sich im Kindesalter oft deutlich: Betroffene sind motorisch unruhig, zappeln ständig, laufen herum, klettern oder haben generell Schwierigkeiten, stillzusitzen. Im Erwachsenenalter wandelt sich diese Hyperaktivität häufig in eine „innere Unruhe“ um, in ein Gefühl des ständigen Getriebenseins oder der Unfähigkeit, sich zu entspannen. Viele Erwachsene berichten, dass sie gedanklich „rasen“ oder „springen“ und es kaum aushalten, untätig zu sein, obwohl die äußerlich sichtbare Unruhe stark abgenommen hat.
Impulsive Symptome äußern sich in vorschnellem Handeln ohne ausreichende Berücksichtigung der Konsequenzen, in der Schwierigkeit, auf Belohnungen zu warten, im Unterbrechen anderer, in impulsiven Entscheidungen oder emotionalen Reaktionen. Auch emotionale Impulsivität, also schnelle Frustration, Gereiztheit und Stimmungsschwankungen, wird heute als typischer Bestandteil von ADHS verstanden, auch wenn sie nicht in allen Diagnosemanualen explizit genannt wird. Diese emotionale Dysregulation kann zu erheblichem sozialem und beruflichem Stress führen.
Neben den Kernsymptomen zeigt ADHS eine Reihe weiterer charakteristischer Funktionsbeeinträchtigungen, die oft weniger sichtbar sind, für die Betroffenen jedoch sehr belastend. Dazu gehören Schwierigkeiten bei den Exekutivfunktionen, beispielsweise beim Planen, Priorisieren, Zeitmanagement, im Arbeitsgedächtnis oder bei der Fähigkeit, Aufgaben zu beginnen oder aufrechtzuerhalten. Viele Betroffene kämpfen mit Prokrastination, chaotischen Strukturen, dem Gefühl, ständig hinterherzuhinken, oder einem ausgeprägten Perfektionismus, der paradoxerweise zu Blockaden führt.
Symptomatik bei guter Kompensation und Maskierung
Trotz erheblicher Beeinträchtigungen kann ADHS äußerlich unauffällig erscheinen, wenn Betroffene Kompensationsstrategien entwickelt haben oder Symptome bewusst oder unbewusst maskieren, um in Schule, Beruf oder im sozialen Umfeld zu funktionieren. Während bei der Maskierung Symptome aktiv versteckt oder ausgeglichen werden, beziehen sich Kompensationsstrategien eher auf funktionale Strategien, die aus Erfahrung oder Notwendigkeit heraus entstanden sind.
Menschen mit gut kompensierter oder maskierter ADHS wirken nach außen hin oft organisiert, leistungsfähig und sozial angepasst. Intern betreiben sie jedoch einen hohen Aufwand, um dieses Bild aufrechtzuerhalten. Die Symptome verlagern sich dann häufig nach innen. Anstelle von Hyperaktivität zeigen sie innere Unruhe und anstelle von offenem Chaos eine extrem anstrengende Form der Selbstkontrolle. Diese Personen wirken möglicherweise überlegen strukturiert, diszipliniert oder sogar perfektionistisch. Doch dieser äußere Eindruck basiert häufig auf einem fragilen Balanceakt, der erhebliche mentale Energie erfordert.
Bei kompensierter ADHS kann die Unaufmerksamkeit beispielsweise durch strikte Routinen, exzessives Planen oder die ständige Nutzung von Erinnerungs- und Organisationshilfen überdeckt werden. Die betroffene Person wirkt zwar nicht zerstreut, kämpft im Hintergrund jedoch permanent gegen Vergessen und Ablenkung an. Hyperfokus kann dabei helfen, bestimmte berufliche oder kreative Leistungen zu erbringen, während gleichzeitig andere Bereiche des Lebens – Haushalt, Finanzen, Alltagsorganisation – massiv leiden, ohne dass dies auffällt.
Die Impulsivität kann durch erlernte Selbstkontrollmechanismen zwar teilweise unterdrückt werden, jedoch häufig nur mit dem Ergebnis, dass sich innere Spannung und Erschöpfung aufbauen. Zwar werden emotionale Reaktionen möglicherweise nicht gezeigt, jedoch werden sie intensiv erlebt, was zu Erschöpfung, Überwältigung oder Rückzug führen kann. Viele Betroffene berichten von einem hohen Maß an Selbstkritik, Scham oder Angst, „entlarvt“ zu werden, wenn die Fassade bröckelt.
Zusammengefasst zeigt sich eine kompensierte und maskierte ADHS häufig in folgenden Mustern:
Überkompensation durch Perfektionismus, Ordnung oder Leistung
starke Anpassung an externe Erwartungen, oft zu Lasten eigener Bedürfnisse
gute Noten oder beruflicher Erfolg trotz hoher innerer Belastung
Erschöpfung, Burnout oder emotionale Zusammenbrüche in geschützten Kontexten
„Crashs“ nach Phasen funktionaler Hochleistung
Probleme im privaten Bereich, während der berufliche Bereich stabil wirkt
Unauffälligkeit im sozialen Verhalten, trotz innerer Unsicherheit oder Reizüberflutung
Die Diskrepanz zwischen äußerem Funktionieren und innerem Erleben kann dazu führen, dass ADHS bei Erwachsenen, insbesondere bei Frauen mit hoher Intelligenz oder starker Anpassungsfähigkeit, häufig übersehen oder fehlinterpretiert wird. Oft werden solche Personen erst diagnostiziert, wenn ihre Kompensationsmechanismen durch Lebensbelastungen, steigende Anforderungen oder Erschöpfung zusammenbrechen.
Medizingeschichte
Die Geschichte der ADHS reicht weiter zurück als es die modernen Diagnosen vermuten lassen. Erste Beschreibungen, die heute als klinisch relevant eingestuft werden, stammen aus dem 18. Jahrhundert. So schilderte Melchior Adam Weikard im Jahr 1775 sehr genau Kinder mit Unaufmerksamkeit, Impulsivität und motorischer Unruhe. Einen besonderen kulturhistorischen Stellenwert hat Dr. Heinrich Hoffmann, der 1845 mit dem „Struwwelpeter” die Figur des „Zappelphilipp” schuf. Dies ist zwar keine wissenschaftliche Diagnose, jedoch eine eindrückliche und bis heute berühmte Darstellung hyperkinetischen Verhaltens. Rückblickend gilt sie oft als frühe Beschreibung des ADHS-Phänotyps.
Im Jahr 1902 beschrieb der britische Arzt George Still erstmals systematisch eine Gruppe von Kindern mit Problemen der Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Verhaltenssteuerung. Dies gilt als die erste medizinische Beschreibung dieser Störung. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dieses Verhalten zeitweise mit minimalen Hirnschädigungen in Verbindung gebracht, woraus Begriffe wie „Minimal Brain Damage” oder „Minimal Brain Dysfunction” entstanden. Diese Konzepte wurden später verworfen, markierten aber den Versuch, das Verhalten medizinisch zu erklären.
In der Schweiz prägte sich ab den 1960er-/70er-Jahren der Begriff POS (Psychoorganisches Syndrom). Er diente als Sammelbegriff für Verhaltens- und Aufmerksamkeitsauffälligkeiten, die damals als Folge leichter neurologischer Funktionsstörungen angesehen wurden. Der Begriff POS wurde häufig dort verwendet, wo man heute von ADHS sprechen würde. Erst mit der zunehmenden Internationalisierung der Diagnostik wurde der Begriff POS allmählich durch die moderne ADHS-Klassifikation ersetzt.
Im DSM-III (1980) tauchte erstmals die Bezeichnung „Attention Deficit Disorder“ (ADD) auf, die später in „ADHD“ geändert wurde. Das ICD-10 (1992) verwendete dagegen den engeren Begriff „Hyperkinetische Störung“. Ab den 1990er Jahren führten neuere wissenschaftliche Erkenntnisse, vor allem aus den Bereichen Neurobiologie und Genetik, zu einem moderneren Verständnis der Störung als neuroentwicklungsbedingte Dysregulation von Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen.
Mit dem ICD-11 (2022) wurde die heutige Sichtweise verankert: ADHS ist eine neuroentwicklungsbedingte Störung, die lebenslang anhält und sich in unterschiedlicher Ausprägung (unaufmerksam, hyperaktiv-impulsiv oder kombiniert) zeigen kann. Sie ist nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen relevant.
Epidemiologie
ADHS zählt zu den häufigsten neuropsychologischen Entwicklungsstörungen. Weltweit liegt die Prävalenz bei Kindern je nach Studie und Diagnosekriterien zwischen 5 und 7 %. Bei Erwachsenen zeigen etwa 2,5 bis 3 % eine anhaltende ADHS-Symptomatik, wobei viele Fälle aufgrund kompensierter Verhaltensmuster oder mangelnder Diagnostik unerkannt bleiben. Dass die Störung häufiger bei Jungen als bei Mädchen diagnostiziert wird, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass Mädchen die Störung häufiger mit einer unaufmerksamen, weniger auffälligen Präsentation zeigen und deshalb seltener diagnostiziert werden. ADHS ist weltweit in allen Kulturen und sozialen Schichten verbreitet. Unterschiede in den Prävalenzraten spiegeln hauptsächlich unterschiedliche Diagnosesysteme, kulturelle Faktoren und Versorgungsstrukturen wider und nicht zwingend tatsächliche Unterschiede im Auftreten der Störung.
Ätiologie
Genetik
Die Ätiologie der ADHS beruht auf einem komplexen Zusammenspiel genetischer und umweltbezogener Faktoren, wobei die genetische Komponente den größten Einfluss hat. Heute geht man davon aus, dass ADHS zu 80 % genetisch bedingt ist und nur zu 20 % auf Umweltfaktoren zurückzuführen ist. Dabei sind Umweltfaktoren eher für den Schweregrad bzw. das erfolgreiche oder erfolglose Coping verantwortlich. Zahlreiche kleine genetische Varianten erhöhen gemeinsam das Risiko. Viele dieser Varianten betreffen Gene, die an der Regulation von Dopamin und Noradrenalin sowie der neuronalen Entwicklung beteiligt sind. Es gibt kein einzelnes ADHS-Gen, sondern eine polygenetische Risikoarchitektur.
Umweltfaktoren
Umweltfaktoren tragen einen zusätzlichen, jedoch deutlich kleineren Teil zum Gesamtrisiko bei. Hierzu zählen pränatale Belastungen wie eine Nikotin-, Alkohol- oder Drogenexposition während der Schwangerschaft, extreme Frühgeburtlichkeit, ein niedriges Geburtsgewicht, Sauerstoffmangel während der Geburt oder schwere perinatale Komplikationen. Auch chronischer psychosozialer Stress, Traumatisierung, familiäre Instabilität oder eine hohe Belastung durch Armut können die Symptomatik verstärken oder das Risiko beeinflussen. Sie wirken jedoch eher modulierend als ursächlich. Insgesamt entsteht ADHS also nicht durch Erziehung oder einzelne Lebensereignisse, sondern durch ein multifaktorielles Zusammenspiel biologischer und umweltbezogener Einflüsse auf die neuronale Entwicklung.
Pathophysiologie
Die Pathophysiologie der ADHS beschreibt, warum und wie das Gehirn von Betroffenen anders arbeitet. Die Gesamtheit dieser neurobiologischen Unterschiede führt dazu, dass sie ihre Aufmerksamkeit weniger stabil regulieren, impulsive Handlungen schwerer unterdrücken und exekutive Funktionen weniger effizient einsetzen können. Eine strukturelle Schädigung liegt dabei nicht vor, sondern es handelt sich um eine alternative, neuroentwicklungsbedingte Organisation und Reifung von Hirnnetzwerken. Diese kann sowohl funktionelle Schwächen als auch typische Stärken (z. B. Kreativität, Hyperfokus in Interessengebieten, schnelle Reaktionsfähigkeit) mit sich bringen.
Anatomische Hirnveränderungen
Die Forschung weist auf charakteristische Unterschiede in Struktur, Funktion und Konnektivität bestimmter Hirnnetzwerke hin, die Aufmerksamkeit, Impulskontrolle, Exekutivfunktionen, Motivation und Selbstregulation steuern. Eine zentrale Rolle spielt dabei das frontostriatale Netzwerk, das bei ADHS im Durchschnitt kleiner, weniger stark vernetzt oder verzögert gereift ist. Der präfrontale Cortex, der unter anderem für Planung, Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und Impulskontrolle wichtig ist, zeigt bei vielen Betroffenen eine verzögerte Entwicklung oder reduzierte Aktivität.
Funktionelle Hirnveränderungen
Das Default Mode Network (DMN), das normalerweise im Ruhezustand aktiv ist und während fokussierter Arbeit herunterreguliert wird, schaltet bei ADHS unzuverlässiger ab. Dies führt zu einer stärkeren Ablenkbarkeit und zu Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit stabil zu halten. Auf neurochemischer Ebene bestehen vor allem Unterschiede in der Regulation von Dopamin und Noradrenalin, die zentrale Rollen in Motivation, Aufmerksamkeitssteuerung und Belohnungsverarbeitung spielen. Menschen mit ADHS zeigen oft eine geringere dopaminerge Signalverfügbarkeit in Bereichen, die auf verzögerte Belohnungen reagieren. Dies erklärt, warum unmittelbare Belohnungen besonders wirksam sind und warum das Aufschieben oder lange Wartezeiten schwerfallen. Auch die Verarbeitung von Fehlern und Rückmeldungen ist verändert, was sich auf Lernprozesse und Selbstkontrolle auswirken kann.
Komorbiditäten
Bei Menschen mit ADHS kommen häufig zusätzliche psychische oder neuroentwicklungsbedingte Störungen vor. Bis zu 70 % der Betroffenen haben mindestens eine Komorbidität. Am häufigsten treten Angststörungen und Depressionen auf, die oft sekundär entstehen, beispielsweise durch chronische Überforderung, Selbstwertprobleme oder die Folgen langjähriger Kompensationsbemühungen. Auch emotionale Dysregulation, Reizbarkeit und schnelle Stimmungsschwankungen sind bei vielen Betroffenen zu beobachten. Diese können fälschlich als depressive oder bipolare Symptome interpretiert werden. Wichtig sind auch Abhängigkeitserkrankungen, insbesondere bei unbehandelter ADHS. Impulsives Verhalten, Belohnungssensitivität und die Suche nach Selbstregulation erhöhen nämlich das Risiko für Alkohol-, Nikotin- und andere Substanzabhängigkeiten.
Auf neuroentwicklungsbezogener Ebene sind Autismus-Spektrum-Störungen, Lernstörungen (wie Lese-Rechtschreib-Störungen und Dyskalkulie) sowie Koordinationsstörungen besonders häufig vertreten. Auch Tic-Störungen und oppositionelle Verhaltensstörungen treten gehäuft auf. Bei Erwachsenen stehen zudem Schlafstörungen, Essstörungen (insbesondere Binge Eating) sowie Persönlichkeitsakzentuierungen mit emotional-instabilen oder vermeidend-ängstlichen Anteilen im Vordergrund. Das Auftreten solcher Komorbiditäten beeinflusst die Diagnose, die Therapieplanung und den klinischen Verlauf erheblich. Eine sorgfältige differentialdiagnostische Betrachtung ist daher essenziell, insbesondere weil einige Komorbiditäten die ADHS-Symptomatik verstärken oder maskieren können.
Diagnostik
Die Abklärung einer ADHS erfolgt heute als mehrstufiger, umfassender diagnostischer Prozess, bei dem die aktuelle Symptomatik, die Entwicklungsgeschichte und das funktionelle Niveau berücksichtigt werden. Die Diagnose basiert nicht auf einem einzelnen Test, sondern auf einer klinischen Gesamtbeurteilung. In der Regel steht am Anfang ein ausführliches Anamnesegespräch, in dem Entwicklung, Verhalten, schulische oder berufliche Anforderungen, emotionale Belastungen und familiäre Hintergründe erfasst werden. Besonders wichtig ist, dass die Symptome seit der Kindheit bestehen, auch wenn sie sich im Laufe des Lebens verändern oder durch Kompensation teilweise verdeckt werden. Zusätzlich wird beurteilt, ob die Symptome in mindestens zwei Lebensbereichen auftreten, beispielsweise im Beruf, im häuslichen Alltag oder in sozialen Beziehungen.
Ein zentraler Bestandteil der Diagnostik ist die systematische Erfassung der Kernsymptome von Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Dies erfolgt in der Regel durch strukturierte Interviews oder standardisierte Fragebögen. Zusätzlich wird erfasst, inwieweit die Symptome den Alltag beeinträchtigen, beispielsweise in Form von Organisationsproblemen, Prokrastination, Vergesslichkeit, emotionaler Impulsivität oder beruflicher Überforderung. Die Funktionsbeeinträchtigung ist im ICD-11 ein zentrales Kriterium und muss eindeutig nachgewiesen werden.
Neuropsychologie
Es gibt keine neuropsychologischen Tests, mit denen sich ADHS beweisen oder ausschliessen liesse. ADHS-Betroffene können sich durchaus für eine kurze Zeit gut konzentrieren, insbesondere, wenn die Tests als spannende Herausforderung wahrgenommen werden. Zudem treten die Konzentrationsstörungen eher bei Routinetätigkeiten auf oder es sind eher exekutive Funktionen betroffen, die den Alltag, nicht aber einen strukturierten Test beeinflussen. Fällt eine neuropsychologische Testung unauffällig aus, schliesst dies eine ADHS also nicht aus. Werden Defizite festgestellt, so handelt es sich typischerweise um eine erhöhte Fehler- und Auslassungsquote sowie eine erhöhte Reaktionszeitvariabilität bei Konzentrationsverlaufstests. Auch bei Aufgaben zum Arbeitsgedächtnis sowie bei Problemlösungs- und Planungsaufgaben kommt es zu vermehrten Fehlern. Oft findet sich auch eine intraindividuelle Diskrepanz zwischen Aufmerksamkeit und Gedächtnis. Neben den eigentlichen Leistungsresultaten ist häufig die Verhaltensbeobachtung ebenso wichtig: Ist die Patientin oder der Patient ablenkbar, muss bei der Instruktion wiederholt nachgefragt werden, gerät die Patientin oder der Patient schnell unter Druck oder ist die Patientin oder der Patient umständlich und langsam?
Die neuropsychologische Testung ist daher besonders nützlich für
Abklärung komplexer Fälle,
Differenzialdiagnostik (z. B. Abgrenzung zu Lernstörungen oder kognitiven Einbußen anderer Genese),
Abbildung individueller Stärken und Schwächen,
sowie Therapie- und Rehabilitationsplanung.
Elektrophysiologie
Im neurologischen Standard-Elektroenzephalogramm (EEG) sind bei ADHS keine Abweichungen erkennbar. Eine EEG-Untersuchung ermöglicht es jedoch, wichtige Differentialdiagnosen (Enzephalopathie, Absence-Epilepsie) auszuschliessen. Im quantitativen EEG wird das Spektrum berechnet, d. h., es wird ermittelt, welcher Anteil der verschiedenen Frequenzen im EEG-Signal enthalten ist. Diese Spektren können mit einer Datenbank verglichen oder einzelne Frequenzen im Verhältnis zu anderen dargestellt werden. Ein klassisches solches Verhältnis ist die Theta-Beta-Ratio (TBR). Ältere Studien zeigten für eine erhöhte TBR eine Sensitivität von bis zu 86 % und eine Spezifität von bis zu 98 % für das Vorliegen einer ADHS bei 6- bis 30-Jährigen. Jüngere Studien zeigen eine geringere Sensitivität und Spezifität, die jedoch nach wie vor so hoch sind, dass die Verwendung der TBR von der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) als Unterstützung in der ADHS-Diagnostik anerkannt ist. Mentale Störungen werden zunehmend als Ausdruck einer Fehlfunktion neuronaler Netzwerke verstanden. Diese Fehlfunktionen können in Form einer veränderten Konnektivität von Hirnregionen nachgewiesen werden. So gelang es Kiiski et al., sowohl die Unaufmerksamkeit als auch die Hyperaktivität durch die Konnektivität der verschiedenen Frequenzbänder vorherzusagen. Neben dem quantitativen EEG können auch ereigniskorrelierte Potenziale (insbesondere eine verminderte P300-Welle in Go/No-Go-Tests) Hinweise auf eine verminderte kognitive Kontrolle geben. Wie man erkennt, können bei ADHS verschiedene elektrophysiologische Parameter von der Norm abweichen, sodass kaum ein einzelner Test die Heterogenität der Störung abbilden kann. Für die Therapieplanung erlangen solche Biomarker aber zunehmend Bedeutung, da Behandlungen nicht aufgrund der ICD-11-Diagnosen, sondern aufgrund der individuellen physiologischen Abweichungen gewählt werden.
Bildgebung
Während elektrophysiologische Untersuchungen mit EEG und evozierten Potentialen bereits heute auch im klinischen Alltag angewendet werden können, haben bildgebende Verfahren – abgesehen vom Ausschluss einer organischen psychischen Störung – weiterhin nur eine Bedeutung in der Forschung.
Zusammengefasst können neuropsychologische Tests, EEG und MRI die Diagnostik ergänzen. Sie dienen jedoch primär der Kontextualisierung, Differenzialdiagnostik und Funktionsanalyse und nicht der Diagnosebestätigung. Die ADHS-Diagnose bleibt eine klinische Entscheidung, die sich auf Anamnese, Symptomatik und funktionelle Beeinträchtigung stützt und nicht auf apparative oder objektive Marker.
Differentialdiagnose
Verschiedene psychiatrische Störungen, neurologische und auch internistische Krankheiten können zu Konzentrationsproblemen, Nervosität und Impulsivität führen und somit ähnlich wie ADHS wirken. Bei einer Erstabklärung von ADHS im jungen Erwachsenenalter muss deshalb sorgfältig evaluiert werden, ob sich die erste Episode einer affektiven Störung oder einer Psychose abzeichnet oder ob beispielsweise eine Absencen-Epilepsie vorliegt. Da eine ADHS im Erwachsenenalter jedoch selten isoliert auftritt, müssen neben neurologischen und internistischen Erkrankungen auch Komorbiditäten evaluiert werden. Dabei stellen diese häufig Folgeerkrankungen einer in der Kindheit oder Jugend nicht diagnostizierten und somit nicht behandelten ADHS dar.
Abschließend fasst die Fachperson alle Informationen zu einer klinischen Gesamtbeurteilung zusammen. Eine ADHS kann diagnostiziert werden, wenn ein persistierendes Muster der typischen Symptome besteht, die Symptome seit der Kindheit nachweisbar sind, Beeinträchtigungen in mehreren Lebensbereichen vorliegen und keine anderen Störungen das klinische Gesamtbild besser erklären. Erst wenn all diese Bedingungen erfüllt sind, wird eine der drei ADHS-Präsentationen (unaufmerksam, hyperaktiv-impulsiv oder kombiniert) festgelegt. Die Diagnostik ist daher eine sorgfältige Integrationsarbeit, die das Verhalten im Kontext betrachtet und sowohl objektive Befunde als auch das subjektive Erleben einbezieht.
Therapie
Die Therapie sollte nicht einfach als eine Behandlung von Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität verstanden werden. Das Ziel der Betroffenen – sowie ihrer Angehörigen, Lehrer, Chefs und Freunde – ist es, den Anforderungen des Lebens (Alltag, Beziehungen, Beruf) geordnet, ruhig und entspannt gerecht werden zu können. Dazu bedarf es der Rückschau, Weitsicht, Planung, Initiative, Einteilung der Kräfte (Selbstmanagement) und Überprüfung der Resultate.
Die Behandlung von ADHS erfolgt heute multimodal und individuell angepasst. Da die Störung auf mehreren Ebenen – neurobiologisch, emotional und verhaltensbezogen – wirkt, profitieren Betroffene am meisten von einer Therapie, die verschiedene Wirkmechanismen kombiniert.
Grundsätzlich lassen sich folgende Therapiekomponenten unterscheiden: Psychoedukation, Coaching (Selbstbeobachtung, Selbstmanagement, Selbstinstruktion), Psychotherapie, nicht-medikamentöse Neuromodulation und Medikamente. Welche Elemente im Vordergrund stehen, hängt vom Alter der betroffenen Person, dem Leidensdruck, möglichen Komorbiditäten und den persönlichen Präferenzen ab.
Psychedukation, Coaching/Psychotherapie und psychosoziale Interventionen
Psychotherapeutische Ansätze sind ein wichtiger Bestandteil der Behandlung. Sie wirken vor allem auf Verhalten, Selbstregulation, Motivation und emotionale Stabilisierung. Das Ziel der Therapie ist es, Funktionsbeeinträchtigungen zu reduzieren und adaptive Strategien aufzubauen.
Wichtige psychotherapeutische und psychosoziale Methoden sind:
Psychoedukation: Verständnis der Störung, ihrer neurobiologischen Grundlagen und der praktischen Auswirkungen im Alltag
Coaching / Alltagsstrukturierung: Aufbau von Routinen, Nutzung externer Hilfen, Priorisieren, Umgang mit Prokrastination
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Training von Organisation, Zeitmanagement, Aufmerksamkeitsregulation, Impulskontrolle und Emotionsregulation
Trauma- oder Angsttherapie, wenn Komorbiditäten vorliegen
Soziale Kompetenztrainings: besonders bei Kindern und Jugendlichen
Familien- und Elternberatung: Verbesserung der Interaktion, Umgang mit Reizbarkeit, klare Strukturen
Psychotherapie wirkt vor allem auf die funktionelle Ebene der ADHS – sie verändert nicht direkt die neurobiologischen Grundlagen, hilft aber wesentlich, Symptome zu kompensieren und sekundäre Probleme zu verhindern.
Nicht-medikamentöse Neuromodulation (Neuro-/Biofeedback, tDCS, rTMS)
Bei nicht-medikamentösen neuromodulatorischen Verfahren wird versucht, die neuronale Aktivität in für ADHS relevanten Hirnnetzwerken gezielt zu beeinflussen. Sie gelten zwar nicht als Erstlinientherapie, können aber eine sinnvolle Ergänzung sein, beispielsweise bei fehlender Medikamentenverträglichkeit oder als Add-on.
Neuro-/Biofeedback (NFB/BFB)
Beim Neuro-/Biofeedback handelt es sich um eine computergestützte Trainingsmethode. Durch die Rückmeldung von physiologischen Messwerten wie EEG-Wellen, Puls oder Atemfrequenz wird die Selbstregulation verbessert. Durch die kontinuierliche Rückmeldung während der Sitzungen wird dieser günstige Zustand durch Konditionierung verstärkt, d. h., er kann im Alltag durch Erinnerung an die Trainingssitzung abgerufen werden. Das Ziel besteht in der Verbesserung der Selbstregulation.
Transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS)
Bei der transkraniellen Gleichstromstimulation (tDCS) handelt es sich um eine Methode der Neurostimulation. Das bedeutet, dass die Aktivität einzelner Hirnregionen angeregt oder gehemmt wird. Dazu werden an zwei Stellen des Kopfes Elektroden, in der Regel in Form von feuchten Schwämmen, angebracht. Mit Hilfe eines Stimulators wird dann ein schwacher elektrischer Gleichstrom (2 mA) vom Plus- zum Minuspol erzeugt. In der Hirnrinde kommt es dabei unter dem Pluspol zu einer erhöhten Erregbarkeit. Umgekehrt wird die Erregbarkeit in der Hirnrinde unter dem Minuspol gehemmt. Somit kann die kortikale Aktivität im Gehirn gezielt moduliert werden. Die tDCS kann als Heimbehandlung durchgeführt werden. Über einen Zeitraum von drei Wochen wird an fünf bis sieben Tagen pro Woche behandelt. Bei gutem Ansprechen wird die Behandlung um bis zu sieben Wochen weitergeführt. Dadurch können Symptome wie Antriebshemmung, erhöhte Ablenkbarkeit, Hyperaktivität und Stimmungsschwankungen verringert werden.
Repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS)
Bei der rTMS werden mittels einer über dem Kopf gehaltenen Magnetspule repetitive magnetische Impulse erzeugt. Diese Impulse stimulieren dann die Aktivität der sich direkt darunter befindenden Hirnrindenareale. Da der therapeutische Effekt aber in erster Linie über die Induktion plastischer Prozesse zustande kommt, muss die Stimulation z.B. bei Depressionen während vier oder mehr Wochen täglich in der Praxis durchgeführt werden. Diese Behandlung stellt insbesondere bei komorbiden schweren Depressionen eine gute Behandlungsoption dar.
Medikamente
Bei einer starken Beeinträchtigung sowie bei Komorbiditäten wie Depressionen, Angststörungen oder Abhängigkeitserkrankungen ist die Behandlung mit einem Psychostimulans die erste Wahl. Neben der Linderung der Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität ist die Stimmungsstabilisierung ein wichtiges Therapieziel.
Für den Einsatz von Psychostimulantien spricht auch die jahrzehntelange Erfahrung. Bereits 1937 wurde der positive Effekt von Amphetaminsulfat auf die motorische Unruhe von Kindern beschrieben. Unter dem Namen „Benzedrin” kam es jedoch erst ab 1948 auf den Markt. Ab 1954 wurde das von Leandro Panizzon entwickelte Methylphenidat zunächst von Ciba-Geigy und später von Novartis unter dem Namen „Ritalin” vermarktet. Neben Methylphenidat stehen Lisdexamfetamin und Atomoxetin zur Verfügung. Atomoxetin ist kein Psychostimulans im engeren Sinne, sondern ein hochselektiver und potenter Hemmstoff des präsynaptischen Noradrenalin-Transporters. Alle drei Wirkstoffe zeigen gute Effektstärken und gehören damit neben Lithium (zur Behandlung der bipolaren affektiven Störung) zu den wirksamsten Medikamenten in der Psychiatrie.
Anders als bei Kindern kann bei Erwachsenen nicht vom Körpergewicht auf die notwendige Dosierung geschlossen werden. Es zählt der Effekt. Frauen benötigen häufig eine höhere Dosis als Männer, um dieselben Plasmaspiegel zu erreichen. Für Erwachsene sind nur retardierte Präparate zugelassen. Obwohl die Wirkung nicht verzögert einsetzt wie bei Antidepressiva, hat es sich bewährt, sich durch Steigerung der Dosis alle paar Tage langsam heranzutasten. Dies hat zwei Gründe: Einerseits kann so ein gutes Gefühl der Wirkung unabhängig von der Tagesform erreicht werden und andererseits können mögliche Nebenwirkungen gut überwacht werden. In erster Linie sind dies Kopfschmerzen, Appetitmangel, Puls- und Blutdruckerhöhungen, die meist nur vorübergehend auftreten. Meist sind diese passager. Es kann zu Schlafstörungen kommen. Oft wird jedoch von einem besseren Schlaf berichtet, was auf die Beruhigung der Hyperaktivität zurückzuführen ist. Gegen Abend, wenn die Wirkung nachlässt, kommt es häufig zu Rebound-Phänomenen, bei denen die ADHS-Symptome stärker wahrgenommen werden. Dem kann häufig durch die Einnahme einer kleinen Dosis am Mittag entgegengewirkt werden. Mögliche psychiatrische Nebenwirkungen sind die Verstärkung von Tics und das Auslösen depressiver oder auch psychotischer Symptome. In beiden Fällen muss die Behandlung sistiert oder zumindest unterbrochen werden, bis flankierende Massnahmen etabliert sind.
Wie oben ausgeführt, ist die Komorbiditätsrate sehr hoch, sodass häufig eine Kombinationstherapie notwendig wird. Je nach Komorbidität können alle Substanzklassen zum Einsatz kommen. Gerade noradrenerge und/oder dopaminerge Antidepressiva stellen eine gute Option dar, da sie die Kernsymptomatik der ADHS auch allein bessern können. Bei Ängsten können Pregabalin, bei Stimmungsschwankungen Lamotrigin, Quetiapin oder Lithium zum Einsatz kommen.
Medikamente sind die am schnellsten wirksame Einzeltherapie bei ADHS. Sie beeinflussen direkt die neurobiologischen Mechanismen der Störung.
Warum ADHS-Medikamente wirken – klinische Ableitung aus der Pathophysiologie
Die Wirksamkeit von ADHS-Medikamenten lässt sich direkt aus den neurobiologischen Besonderheiten ableiten, die bei ADHS vorliegen. Da die Störung vor allem durch eine veränderte Regulation der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin sowie durch eine ineffiziente Steuerung zentraler Hirnnetzwerke gekennzeichnet ist, setzen die Medikamente genau dort an. Sie verbessern die Signalübertragung in den Netzwerken, die für Aufmerksamkeit, Impulskontrolle, das Arbeitsgedächtnis und die Selbstregulation zuständig sind.
Stimulanzien wie Methylphenidat und Amphetaminpräparate wirken primär, indem sie die Verfügbarkeit von Dopamin und Noradrenalin im synaptischen Spalt erhöhen. Methylphenidat hemmt die Wiederaufnahme dieser Neurotransmitter, während Amphetamine zusätzlich deren Freisetzung erhöhen. Bei ADHS besteht im Durchschnitt eine relative Unteraktivität dopaminerger und noradrenerger Signalwege, insbesondere im präfrontalen Cortex und im frontostriatalen Netzwerk. Durch die Wirkung der Medikamente werden diese Signale verstärkt, sodass die betreffenden Hirnareale effizienter arbeiten können. Klinisch zeigt sich dies als bessere Aufmerksamkeitsstabilität, weniger Ablenkbarkeit, strukturierteres Denken, verbesserte Impulskontrolle und verringerte innere Unruhe. Wichtig ist, dass Stimulanzien die Aktivität nicht „anheizen“, sondern die Regulation verbessern. Deshalb wirken sie bei Menschen mit ADHS beruhigend und fokussierend, nicht stimulierend im umgangssprachlichen Sinn.
Die Medikamente verbessern auch das Umschalten zwischen den verschiedenen Hirnnetzwerken. Bei ADHS wird das sogenannte Default Mode Network (DMN) zu spät herunterreguliert, was zu einer erhöhten Ablenkbarkeit führt. Stimulanzien helfen, die funktionelle Balance zwischen DMN und aufgabenorientierten Netzwerken wiederherzustellen. Dadurch kann die Aufmerksamkeit länger auf eine Aufgabe gelenkt werden. Viele Betroffene berichten, dass sich der „Lärm im Kopf“ reduziert und ihnen das geistige Arbeiten leichter fällt.
Auch Nicht-Stimulanzien wie Atomoxetin oder Guanfacin greifen in diese Signalwege ein, jedoch auf andere Weise. Atomoxetin erhöht selektiv die Verfügbarkeit von Noradrenalin (und indirekt auch die von Dopamin) im präfrontalen Cortex, ohne die dopaminerge Aktivität im Belohnungszentrum so stark zu beeinflussen wie Stimulanzien. Dies führt zu einer verbesserten Regulation von Aufmerksamkeit und Impulskontrolle, die Wirkung setzt jedoch tendenziell langsamer und stetiger ein. Guanfacin und Clonidin wirken über α₂-adrenerge Rezeptoren und erhöhen so die neuronale Effizienz in präfrontalen Netzwerken. Sie verbessern die „Signal-zu-Rausch-Relation” der Neuronen und stabilisieren somit exekutive Funktionen, die emotionale Regulation und die Impulskontrolle.
Zusammengefasst wirken ADHS-Medikamente, da sie die zugrunde liegenden neurobiologischen Funktionsschwächen adressieren. Sie gleichen keine Defekte aus, sondern optimieren die Regulation von Hirnnetzwerken, die bei ADHS weniger effizient oder weniger konsistent arbeiten. Klinisch führt dies nicht nur zu verbesserter Aufmerksamkeit, sondern oft auch zu stabilerer Stimmung, weniger Reizüberflutung, geringerer Frustrationsanfälligkeit und besserer Selbststeuerung – all jene Funktionen, die eng mit der neurobiologischen ADHS-Pathophysiologie verknüpft sind.
Verlauf und Prognose
Folgeuntersuchungen von Kindern mit ADHS legen nahe, dass die Symptomatik bei deutlich mehr als 50 % der Betroffenen bis ins Erwachsenenalter anhält. Allerdings zeigt sich bei den wenigsten das Vollbild mit Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Letztere schwächen sich typischerweise ab, nicht aber die Unaufmerksamkeit.
Dadurch entstehen weiterhin funktionale Einschränkungen, die zu Desorganisation, beruflichem Versagen, Beziehungsproblemen und auch Unfällen führen können. Wurde die Diagnose in der Kindheit nicht gestellt, so wird die ADHS im Erwachsenenalter häufig lange Zeit nicht erkannt, da die Betroffenen die Symptome als normal wahrnehmen und keine medizinische Hilfe suchen. Typischerweise führen erst die zunehmenden Komorbiditäten zur psychiatrischen Abklärung und Behandlung. Wird die Diagnose gestellt und die Behandlung unter Berücksichtigung der Komorbiditäten erfolgt, kann die Symptomatik kontrolliert und die Zufriedenheit verbessert werden.
Fazit
ADHS ist eine neurobiologische Störung, die, wenn sie unerkannt und unbehandelt bleibt, bei mehr als der Hälfte der Betroffenen auch im Erwachsenenalter bestehen bleibt. Bei normaler Intelligenz, Motivation und einem unterstützenden Umfeld bleibt sie häufig unerkannt, führt aber zu erheblichen Komorbiditäten. Daher wird die Diagnose bei über der Hälfte der in psychiatrischen Kliniken behandelten Patientinnen und Patienten gestellt. Wird die ADHS übersehen, führt dies zu langwierigen und leider oft auch wenig erfolgreichen Behandlungen. Somit ist die ADHS weiterhin als unterdiagnostiziert anzusehen. Die zunehmenden Anforderungen an unsere Konzentrationsfähigkeit („mediales Multitasking“, schnelle Weiterentwicklung der Technik mit dauernder Weiterbildung, hohes Tempo im Berufsleben) führen dazu, dass die Aufmerksamkeitsstörung bei Betroffenen, die sonst wenig auffällig sind (keine Hyperaktivität, Impulsivität mehr), zu einem hohen Leidensdruck mit Erschöpfung und Insuffizienzgefühlen führt. Die Diagnose wird dann als entschuldigende Modediagnose bzw. die Behandlung als Neuro-Enhancement verunglimpft.