Krankheitsbilder | Neuromentale Entwicklungsstörungen

Autismus-Spektrum-Störung
(ICD-11 6A02)

Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist eine neuromentale Entwicklungsstörung, die sich in
Schwierigkeiten bei der sozialen Interaktion und Kommunikation äußert,
oft verbunden mit eingeschränkten Interessen und repetitiven Verhaltensweisen
.

Definition

Die Autismus-Spektrum-Störung ist gekennzeichnet durch anhaltende Defizite in der Fähigkeit, wechselseitige soziale Interaktionen und soziale Kommunikation zu initiieren und aufrechtzuerhalten. Zudem sind eine Reihe von eingeschränkten, sich wiederholenden und unflexiblen Verhaltens-, Interessen- oder Aktivitätsmustern festzustellen, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder übermäßig sind. Der Beginn der Störung liegt typischerweise in der frühen Entwicklungsphase, jedoch können sich die Merkmale erst später vollständig manifestieren, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Fähigkeiten übersteigen. Die Defizite führen zu klinisch bedeutsamen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Personen im Spektrum zeigen eine volle Bandbreite intellektueller Funktionen und Sprachfähigkeiten.

 
 

Im ICD-11 werden frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und atypischer Autismus unter einer gemeinsamen Diagnose zusammengefasst. Anstelle verschiedener Unterformen wird das Kontinuum (Spektrum) der Symptome betont. Bei der Diagnose werden Sprachentwicklung und intellektuelle Fähigkeiten als Spezifikatoren berücksichtigt.

  • ohne intellektuelle Entwicklungsstörung und mit keiner oder leichter Beeinträchtigung der funktionalen Sprache (6A02.0)

  • ohne intellektuelle Entwicklungsstörung und mit funktionaler Sprachbeeinträchtigung (6A02.2)

  • mit intellektueller Entwicklungsstörung und mit keiner oder leichter Beeinträchtigung der funktionalen Sprache (6A02.1)

  • mit intellektueller Entwicklungsstörung und mit funktionaler Sprachbeeinträchtigung (6A02.3)

  • nicht näher bezeichnet (6A02.Z)

Symptomatik

Bei der ASS zeigen sich die klinischen Aspekte äußerst variabel. Obwohl sich diese auch bei milden Formen bereits im Kindesalter manifestieren, suchen viele Betroffene erst im frühen (bis mittleren) Erwachsenenalter einen Arzt auf. Sie suchen weniger wegen der Grundsymptome als vielmehr wegen Problemen in Beruf oder bei der Alltagsbewältigung sowie psychischen Störungen erstmals Hilfe. Typische Symptome sind:

  • Mangelnde Fähigkeit des nonverbales Verhaltens (z.B. Blickkontakt, Soziales Lächeln, Körpersprache, Mimik) zur Regulation soz. Interaktion zu nutzen oder Beziehungen (zu Gleichaltrigen) aufzubauen (geteilte Freude, sozio-emotionale Gegenseitigkeit, Erkennen soz. Normen)

  • Ungewöhnliche Art zu sprechen (Prosodie, Modulation), Unfähigkeit sprachlichen Austausch zu beginnen oder im gegenseitigen Interesse aufrecht zu erhalten (grosser Wortschatz, pedantisch oder altklug; Sprechen ohne Anpassung ans Gegenüber, Wortwörtliche Interpretation)

  • Ungewöhnlich ausgeprägte, spezielle Interessen/Stereotype (Auffällige Themen und Intensität der Beschäftigung damit und keine Zeit für anderes zu haben, zwanghaftes Festhalten an nicht-funktionalen Handlungen/Ritualen, motorische Manierismen)

Sind kompensatorische Ressourcen, hohe kognitive oder sprachliche Fähigkeiten sowie Kompensationsstrategien vorhanden, werden Defizite in der sozialen Interaktion häufig ausgeglichen. In der Folge können Blickkontakt, Modulation der Stimme oder die Fähigkeit zum Small Talk insgesamt unauffällig erscheinen. Dennoch wirken einige Betroffene unnahbar, verschroben, rätselhaft und handeln eigenartig. Andere wirken im Kontakt sehr korrekt, dabei aber eher technisch. Wieder andere verhalten sich ruhig und zurückhaltend, wirken eingeschüchtert. Wieder andere sprechen besonders viel, beispielsweise über ihre Interessen oder Ansichten, ohne interagierend zu kommunizieren – ungeachtet der Angemessenheit des Kontexts oder der Reaktion des Gegenübers. Die häufig berichtete Inselbegabung ist eher die Ausnahme und kein zwingendes Kennzeichen von Autismus.

Mediziningeschichte

Die Geschichte der Autismus-Spektrum-Störung reicht bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Den Begriff „Autismus” prägte ursprünglich der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler im Jahr 1911, um den Rückzug in die innere Gedankenwelt bei Schizophrenie zu beschreiben. Erst in den 1940er-Jahren wurde Autismus als eigenständige Entwicklungsstörung anerkannt. 1943 veröffentlichte Leo Kanner in den USA seine klassische Beschreibung des „frühkindlichen Autismus“, in der er elf Kinder mit auffälliger sozialer Isolation, echolaler Sprache und einem Bedürfnis nach Gleichförmigkeit beschrieb. Unabhängig davon publizierte Hans Asperger 1944 in Wien seine Arbeit über eine Gruppe von Jungen mit sozialen Schwierigkeiten, normaler oder überdurchschnittlicher Intelligenz und ausgeprägten Spezialinteressen – das später nach ihm benannte Asperger-Syndrom.

Lange Zeit galten Kanners und Aspergers Beschreibungen als getrennte Störungsbilder. In der ICD-10 wurden sie noch als eigenständige Diagnosen geführt. Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt und der Erkenntnis, dass die Übergänge fließend sind, setzte sich jedoch ein dimensionales Verständnis durch. Autistische Merkmale bilden ein Kontinuum unterschiedlicher Schweregrade. Diese Sichtweise führte schließlich zur Einführung des Begriffs „Autismus-Spektrum-Störung (ASS)”, der im ICD-11 alle zuvor getrennten Subtypen (frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, atypischer Autismus u. a.) zusammenfasst. Heute wird Autismus nicht mehr als seltene, klar abgrenzbare Störung verstanden, sondern als neuroentwicklungsbedingte Variante menschlicher Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, deren Ausdrucksformen vielfältig sind und sich über die gesamte Lebensspanne erstrecken.

Epidemiologie

Die Prävalenzrate (Anzahl der aktuell Betroffenen in der Gesamtbevölkerung) für ASS liegt je nach Quelle bei etwa 1 %. Dies dürfte für den frühkindlichen Autismus gemäß ICD-10, den atypischen Autismus und das ausgeprägte Asperger-Syndrom zutreffen. Durch den Spektrumsbegriff, der auch eine Diagnosestellung bei gut funktionierenden Kompensationsmechanismen erlaubt, dürfte die Prävalenz ansteigen.

Ähnlich scheint es sich bei der Geschlechterverteilung zu verhalten. Während man früher von einem Geschlechtsverhältnis von 4:1 (♂:♀) ausging, zeigen neuere Studien mittlerweile eine Geschlechtsverteilung von bis zu 2:1 (♂:♀). Es wird angenommen, dass sich die Ausprägungen bei Mädchen anders äußern, weniger offensichtlich sind und entsprechend erst später oder gar nicht erkannt werden – vor allem bei milden Varianten – oder mit geringerem Leidensdruck einhergehen, sodass keine ärztliche Beratung in Anspruch genommen wird.

Ätiologie

Genetik

Die Ätiologie der ASS gilt heute als multifaktoriell: Ein Zusammenspiel genetischer, neurobiologischer und (in geringerem Maße) umweltbezogener Einflüsse führt zur Entwicklung autistischer Merkmale.

ASS weist eine genetische Komponente auf, da das Syndrom in Familien gehäuft vorkommt, eine erhöhte Konkordanz bei eineiigen Zwillingen aufweist und das Risiko für Geschwister erhöht ist. Wenn ein Angehöriger betroffen ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind autistisch sein wird, grösser:

Allgemeinbevölkerung: ≈ 1 %
Geschwister betrofffen: 10–20 %
Ein Elternteil betroffen: 5–15 %
Eineiige Zwillinge: 60–90 %
Zweieiige Zwillinge: ≈ 30 %

Dabei erfolgt die Vererbung nicht über ein einzelnes Gen. Es konnten zahlreiche Gene identifiziert werden, die mit Autismus in Zusammenhang stehen. Gemäß aktuellem Stand scheint es so zu sein, dass nicht ein einzelnes Gen, sondern eine spezielle Zusammensetzung von Genen zu Autismus führt. Zudem gibt es genetische Überschneidungen mit anderen neuropsychiatrischen Störungen wie ADHS, Schizophrenie oder Epilepsie.

Umweltfaktoren

Kein Umweltfaktor allein verursacht ASS, jedoch modulieren sie das Risiko bei genetischer Prädisposition. Pränatal und perinatal relevante Einflüsse sind:

  • höheres elterliches Alter (v. a. des Vaters),

  • Frühgeburtlichkeit oder niedriges Geburtsgewicht,

  • intrauterine Infektionen (z. B. Röteln, CMV),

  • Exposition gegenüber Teratogenen (z. B. Valproinsäure, Thalidomid),

  • metabolische oder immunologische Faktoren während der Schwangerschaft (z. B. Gestationsdiabetes, Autoimmunprozesse).

Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Impfungen (z. B. MMR) und Autismus – dieser Mythos ist wissenschaftlich eindeutig widerlegt.

Soziale und psychologische Faktoren werden nicht als Ursache für die Entstehung der Kernsymptomatik angesehen. Sie spielen jedoch eine Rolle bei der psychosozialen Entwicklung sowie der Ausprägung der Symptomatik.

Pathophysiologie

Die aktuelle Forschung geht von einem neurodevelopmentalen Vulnerabilitätsmodell aus. Eine genetische Disposition verändert die neuronale Entwicklung, was zu einer atypischen Netzwerkorganisation und Informationsverarbeitung führt. Dies manifestiert sich in autistischen Symptomen, wobei Umwelt- und epigenetische Faktoren die Ausprägung, den Schweregrad und die Komorbiditäten beeinflussen.

Anatomische Hirnveränderungen

Studien haben abweichende Hirnreifungsprozesse im Kindesalter dokumentiert. Bei Kindern mit ASS wurde eine frühe Phase mit übermäßiger Volumenzunahme in den ersten vier Lebensjahren festgestellt, gefolgt von einer späteren Phase mit einer abrupten Abnahme bzw. einem gehemmten Wachstum, bevor sich schließlich ein stabiler Verlauf einstellte. Das gesamte Hirnvolumen von Jugendlichen und Erwachsenen mit ASS unterscheidet sich nicht mehr von dem von Menschen ohne ASS. Einige Forschungsergebnisse berichten von Regionen mit verringertem Volumen, verminderter Anzahl an Neuronen und reduzierten dendritischen Verzweigungen in der Amygdala, dem Corpus callosum oder dem Kleinhirn. Andere Studien berichten von einer erhöhten Anzahl an Neuronen und einer erhöhten Konnektivität zwischen den Neuronen bzw. von mehr kurzen als langen Nervensträngen im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen. Diese Befunde reichen jedoch nicht aus, um ein konsistentes Muster abzuleiten. Zudem stellen gewisse Befunde, wie eine abnormale Entwicklung des Stirnlappens, kein störungsspezifisches Merkmal für ASS dar, da sich abweichende Entwicklungen im Stirnlappen beispielsweise auch bei Schizophrenie finden.

Funktionelle Hirnveränderungen

Ähnlich wie sich keine anatomische Auffälligkeit ausfindig machen ließ, die ausschließlich bei Autismus auftritt und bei allen Betroffenen vorhanden ist, verhält es sich bei funktionellen Hirnveränderungen bzw. der funktionellen Konnektivität. Dennoch scheinen sich die mit Symptomen innerhalb des Autismus-Spektrums (ASS) assoziierten neuronalen Systeme im Verlauf anders zu entwickeln, zu verknüpfen und zu funktionieren. Sie weisen fMRI-Messungen bei Jugendlichen und Erwachsenen mit ASS auf eine funktionelle Hypokonnektivität des anterioren und posterioren Kortex sowie des Default-Mode-Netzwerks hin. Neben Befunden aus bildgebenden Studien wurden in der Literatur Abweichungen bei kognitiv evozierten Potenzialen (qEEG) beschrieben. So kann ein erhöhtes P300 Novelty gefunden werden, das als Ausdruck einer verstärkten Orientierungsreaktion gilt und wahrscheinlich ein Korrelat der Hochsensibilität ist.

Theorien

(1) Schwächere Theory of Mind (ToM)

Dieses Modell wurde erstmals 1978 von Premack et al. beschrieben. Darunter versteht man die Fähigkeit, mentale Modelle und Theorien über emotionale und intentionale Zustände anderer Menschen zu entwickeln. Grundlage dafür ist die Fähigkeit, das eigene Wissen und die eigenen Überzeugungen von den Gefühlen, Gedanken und Intentionen anderer Menschen unterscheiden zu können. Diese Fähigkeit ist auch wichtig für eine angemessene emotionale Reaktion in der zwischenmenschlichen Interaktion. Gemäß Baron und Kollegen (1995) sind Einbußen in der ToM als Ursache der interaktionellen Schwierigkeiten bei ASS zu verstehen.

(2) Schwache Kohärenz

Die von Frith (1989) aufgestellte Theorie besagt, dass bei ASS die globale Informationsverarbeitung weniger gut gelingt bzw. der Vernetzungsgrad der Informationsverarbeitung reduziert ist. Betroffene haben demnach Schwierigkeiten, Einzelinformationen zu vernetzen und gesamthaft zu integrieren. Dafür werden Detailinformationen und partikuläre Aspekte, beispielsweise der visuellen oder auditiven Systeme, bevorzugt bzw. intensiver verarbeitet. Dies soll ihre besondere Begabung für Teilleistungsfertigkeiten (z. B. Detailerkennung in Bildern, Mnestik) erklären. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass eine globale Verarbeitung unmöglich wäre, sondern dass eine lokale Verarbeitung bevorzugt wird.

(3) Exekutive Dysfunktion

Aufgrund von Überschneidungen der Defizite bei ASS und bei Frontalhirnverletzungen wurde diese Theorie formuliert. Die exekutiven Funktionen hängen mit einer intakten Funktion des Frontalhirns zusammen. Zu diesen Funktionen zählen Handlungsplanung, Konfliktmonitoring, Antworthemmung und mentale Flexibilität. Eine Beeinträchtigung dieses Systems führt zu Defiziten in der sozialen Perzeption und Kognition.

Alle Modelle scheinen ihre Berechtigung zu haben bzw. sich zu ergänzen, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Bisher konnte jedoch keine der Theorien die Abweichungen von Autismus-Spektrum-Störungen eigenständig, hinreichend und umfassend erklären.

Komorbiditäten

Komorbiditäten sind bei Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) sehr häufig. Sie beeinflussen das klinische Erscheinungsbild, den Verlauf und die Behandlung wesentlich. Zu den häufigsten Begleitstörungen zählen intellektuelle Entwicklungsstörungen, die von leichter bis schwerer Ausprägung reichen können. Ebenso treten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) in einem erheblichen Anteil der Fälle auf. Schätzungen variieren hierbei zwischen 30 und 50 Prozent, was auf überlappende neurobiologische Grundlagen hindeutet. Auch Angststörungen (insbesondere soziale Angst, generalisierte Angst und Zwangssymptome) sind weit verbreitet und können das soziale Rückzugsverhalten oder repetitive Verhaltensmuster verstärken. Darüber hinaus zeigen viele Betroffene im Jugend- oder Erwachsenenalter depressive Episoden, die oft im Zusammenhang mit chronischer Überforderung, sozialer Isolation oder Stigmatisierungserfahrungen stehen.

Bei Personen mit ASS treten neurologische Erkrankungen, insbesondere Epilepsien, gehäuft auf, insbesondere bei jenen mit zusätzlicher intellektueller Beeinträchtigung. Zudem sind sie häufiger von motorischen Koordinationsstörungen, Sprachentwicklungsverzögerungen und autismusassoziierten genetischen Syndromen (wie dem Fragilen-X-Syndrom oder der Tuberösen Sklerose) betroffen.

Insgesamt ist die Komorbidität bei ASS eher die Regel als die Ausnahme. Sie kann die Diagnosestellung erschweren, da sich die Symptome gegenseitig überlagern oder maskieren können. Daher ist eine differenzierte, multidisziplinäre Diagnostik erforderlich. Für die Behandlung bedeutet dies, dass Interventionen individualisiert und komorbiditätssensitiv gestaltet werden müssen, um sowohl die autistischen Kernsymptome als auch die zusätzlichen psychischen oder somatischen Belastungen angemessen zu berücksichtigen.

Diagnostik

Die ASS ist nach wie vor eine klinische Diagnose. Das bedeutet, dass sie in erster Linie anhand der Lebens- und Krankengeschichte sowie des aktuellen Beschwerdebildes gestellt wird. Im Erwachsenenalter ist die Diagnosestellung erschwert, weil

  • nicht genügend Informationen über die Kindheit vorliegen oder weil die Person selbst keine Auffälligkeiten wahrgenommen hat,

  • die Kernsymptome weitgehend kompensiert oder maskiert sein können und

  • sekundäre bzw. weitere Symptome und Komorbiditäten ein psychopathologisches Mischbild erzeugen.

Fragebögen und strukturierte Interviews können dabei helfen, autistische Merkmale zu erfassen. Daneben gibt es neuropsychologische Testverfahren, mit denen sich feststellen lässt, ob Defizite in der sozialen Kognition vorliegen. EEG-Untersuchungen helfen dabei, Komorbiditäten wie eine ADHS zu diagnostizieren.

Therapie

ASS ist eine lebenslang bestehende neuroentwicklungsbedingte Variante und keine Erkrankung im engeren Sinne. Eine Therapie zielt daher nicht darauf ab, Autismus „zu beseitigen“, sondern autistische Menschen dabei zu unterstützen, ihre Kommunikation, Selbstständigkeit, Lebensqualität und Teilhabe zu verbessern – bei gleichzeitiger Akzeptanz neurodiverser Denk- und Wahrnehmungsweisen.

Bei schwer betroffenen Kindern ist die Behandlung multimodal und interdisziplinär:

  • Frühförderung und psychosoziale Interventionen

  • Sprach- und Kommunikationstherapie

  • Ergotherapie und Alltagstraining

  • Angehörigenarbeit

Nicht alle Erwachsenen mit einer ASS benötigen eine therapeutische Betreuung, beispielsweise bei milden Formen oder solchen mit gut kompensierten Symptomen. Auch kann die soziale Umgebung mit den kommunikativen Defiziten weitgehend kompatibel sein, weswegen kein Leidensdruck entsteht. Dennoch bedeutet die Diagnosestellung für die Betroffenen und ihr Umfeld häufig eine grosse Erleichterung. Das Anderssein bekommt einen Namen, eine Erklärung. Dinge werden für alle Beteiligten besser verständlich. Man kann besser mit schwierigen Situationen umgehen. Den Betroffenen kann es gelingen, einen positiven Bezug zu ihrem Anderssein zu entwickeln und die positiven Aspekte wahrzunehmen.

Für Personen, die mäßig bis schwer betroffen sind, die großen Leidensdruck im Zusammenhang mit dem Störungsbild empfinden, im Beruf anecken oder Schwierigkeiten bei der Alltagsbewältigung haben, ist eine Behandlung, auch von Komorbiditäten, angezeigt.

Psychotherapie

Die psychotherapeutische Behandlung verfolgt folgende Ziele:

  • Förderung der Selbstakzeptanz und Akzeptanz durch andere

  • Erlernen von Umgehungsstrategien bzgl. mentaler Kerndefizite

  • Verbesserung der Fähigkeit zur Emotionsregulation

  • Hilfestellung zu Lebensplanung und Lebensbewältigung

  • Ressourcen zu aktivieren und erfolgreich anzuwenden

Medikamentöse Therapieoptionen

Es existiert keine medikamentöse Therapie, die die Kernsymptome (soziale Kommunikation, eingeschränkte Interessen) direkt beeinflusst.
Medikamente werden aktuell ausschließlich symptomorientiert eingesetzt, etwa bei:

  • ADHS → Stimulanzien (z. B. Methylphenidat, Atomoxetin)

  • Angst- oder Zwangssymptome → SSRI (z. B. Sertralin, Fluoxetin)

  • Aggressivität, Reizbarkeit, Selbstverletzung → atypische Neuroleptika (z. B. Risperidon, Aripiprazol)

  • Schlafstörungen → Melatonin (bei entsprechender Indikation)

Oxytocin könnte neue Behandlungsmöglichkeiten eröffnen. Das Hormon stärkt die Bindung und das Vertrauen zwischen Menschen. Erste Studien konnten zeigen, dass Oxytocin die Fähigkeit verbessern kann, Emotionen in Gesichtern und Augenpartien zu lesen. Eine zugelassene klinische Anwendung gibt es jedoch noch nicht.

Nicht-medikamentöse Neuromodulation

Methoden wie Neurofeedback und nicht-invasive Hirnstimulationsverfahren wir die transkranielle Gleichstormtistmulation (tDCS) oder die repetitive Transkranielle Magnetstimulation (rTMS) können Symptome wie Erregbarkeit durch Umweltreize (sensorisch), Defizite der Emotionsregulation oder Aufmerksamkeit- und Planungsdefizite mildern. Diese Methoden zielen darauf ab, die kortikale Erregbarkeit und funktionelle Konnektivität bestimmter Hirnregionen zu beeinflussen, die bei ASS als atypisch gelten — insbesondere:

  • den präfrontalen Kortex (z. B. dorsolateraler präfrontaler Kortex, DLPFC) zur Verbesserung der exekutiven Funktionen,

  • den temporoparietalen Übergang (TPJ) für Empathie und Theory-of-Mind-Prozesse,

  • und sensorische oder motorische Areale bei Überempfindlichkeiten und repetitiven Verhaltensmustern.

Verlauf und Prognose

ASS wird im Erwachsenenalter häufig erst nach Jahren oder Jahrzehnten erkannt, insbesondere bei Personen mit durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz und guter sprachlicher Kompetenz. In diesen Fällen ist die Diagnose weniger ein „neuer Beginn“ als vielmehr eine Erklärung für langjährige Erfahrungen und Schwierigkeiten. Dies führt oft zu erheblicher Entlastung und einem besseren Selbstverständnis.

Auch bei therapeutischer Unterstützung bleibt eine Autismus-Spektrum-Störung Teil der Persönlichkeit. Allerdings ist der Verlauf nicht statisch oder unveränderlich. Viele Betroffene machen im Laufe der Jahre deutliche Fortschritte in den Bereichen Selbstregulation, soziale Kompetenz und Funktionsniveau – insbesondere dann, wenn sie angemessene Unterstützung und Verständnis erfahren.