"Seven and a Half Lessons About the Brain“ von Lisa Feldman Barrett

 
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Lisa Feldman Barrett

Seven and a Half Lessons About the Brain

In diesem schmalen, sehr lesenswerten Band beleuchtet Lisa Feldman Barrett in sieben Kapiteln (plus ein ‘halbes Kapitel’ Einführung) Aspekte des menschlichen Gehirns und des Menschseins. Es ist kein Lehrbuch sondern vielmehr eine Sammlung von Aufsätzen darüber, was den Menschen aus neurowissenschaftlicher Sicht zum Menschen macht.

The Half-Lesson: Your Brain Is Not for Thinking

In einem kurzen Überblick über die Evolution beschreibt die Autorin, dass das Gehirn sich entwickelt hat, um die Allostase (Anpassungsmechanismen an äussere Bedingungen) zu gewährleisten und nicht primär, um zu denken. Der Beginn des Jagens (und des gejagt Werdens) zu Beginn des Kambriums wird dabei als treibende Kraft gesehen für die Entwicklung komplexerer Funktionen, so auch des Gedächtnisses. Unser Denken ist Mittel zum Zweck und nicht “Ziel” der Evolution.

Lesson No. 1: You Have One Brain (Not Three)

Dass der Mensch ein Gehirn habe und nicht drei, bezieht sich auf die Triune Brain Theorie von McLean, welche die Autorin als falsch bezeichnet. Die Triune Brain Theorie unterscheidet ein Reptiliengehirn (im wesentlichen der Hirnstamm, zuständig für das basale Überleben), Säugetiergehirn (das limbische System, zuständig für Emotionen) und das Menschliche Gehirn (der Neokortex, zuständig für das Denken). Dies sei eine Einteilung, die auf Plato zurückgehe, der auch zwischen Überleben, Fühlen und Denken unterschieden habe. Man dürfe sich nicht eine Evolution vorstellen, bei der Neues, Besseres dazugekommen sei. Vielmehr ist von einer Reorganisation auszugehen. Zudem sei es nicht so, dass die “drei Gehirne” unabhängig voneinander oder gar in Konkurrenz arbeiten würden. Es gäbe nicht das “böse” Triebgehirn, dessen Impulse durch den Kortex kontrolliert werden müssen. Das Gehirn funktioniere als Ganzes, als ein Gehirn.

Lesson No. 2: Your Brain is a Network

In diesem Kapitel erläutert Lisa Feldman Barrett, wie sich wichtige Eigenschaften des Gehirns aus der Netzwerk-Organisation ergeben:

  • Clusters und Hubs, die die “Lokalisation” von einigen Funktionen erklärt

  • Netzwerke sind nicht statisch sondern in ständiger Veränderung: “Tuning” und “Pruning”, d.h. ständiges Bilden von neuen und Löschen von nicht mehr gebrauchten Verbindungen (Grundlage für die Plastizität)

  • Netzwerke zeigen Degeneracy (Entartung), d.h. dieselbe Funktion kann von verschiedenen Teilnetzen übernommen werden

  • Netzwerke ermöglichen Komplexität

Lesson No. 3: Little Brains Wire Themselves to Their World

Der Mensch kommt “unreif” zur Welt. Die Autorin beschreibt, wie neben der genetischen Programmierung physikalische Reize aus der Umwelt (Licht, Töne etc.) und soziale Interaktionen notwendig sind, um das Gehirn richtig zu “verdrahten”. Ohne soziale Interaktion kann sich das Neugeborene nicht gesund entwickeln. Die Unterscheidung “Nature” vs. “Nurture” wird unscharf. Damit sich der Mensch voll zu dem entwickelt, was in seiner “Natur” liegt, benötigt er “Erziehung”: “nature needs nurtre”. Konkreter erläutert die Autorin dies am Beispiel, wie sich die Aufmerksamkeit durch die gemeinsame Aufmerksamkeit mit der Bezugsperson entwickelt.
Werden Neugeborene vernachlässigt oder gar misshandelt, so kommt es zu einer dysfunktionalen Verdrahtung mit grosser Gefahr psychischer Störungen.

Lesson No. 4: Your Brain Predicts (Almost) Everything You Do

Viele unserer Handlungen geschehen reflexartig, d.h. rasch und noch bevor sie uns bewusst werden. Die Autorin beschreibt, wie das Gehirn sensorische Reize und Situationen aufgrund früherer Erfahrungen einschätzt, die zu erwartende Entwicklung voraussagt und entsprechende Handlungen initiiert. Das Problem, dass mit diesem - zum Predictive Coding verwandten - Modell, frei gewählte neue Verhaltensweisen schwierig zu erklären sind, löst sie dadurch, dass durch neue Erfahrungen auch zukünftige andere Verhaltensweisen möglich sind. Es sei deshalb wichtig, neue Erfahrungen zu machen, sich neue Sichtweisen bewusst anzueignen. Als Beispiel nennt sie ein Programm, bei welchem israelische und palästeninensische Jugendliche gemeinsame Projekte haben und sich somit anders kennen lernen.

Lesson No. 5: Your Brain Secretly Works with Other Brains

Wir sind eine soziale Spezies, d.h. wir bilden Gruppen, Kooperationen, um zu überleben. Wir entwickeln uns als Kinder nur dank sozialer Interaktionen (cf. Lesson No. 3) und sind als Erwachsene auf diese angewiesen. Mit Hilfe der Sprache können wir bewusst aufeinander Einfluss nehmen. Vieles läuft aber unbewusst ab. Ein Beispiel dafür ist das Mirroring (Spiegeln) von Mimik und Gestik, aber auch Atmen- und Herzfrequenz wenn wir interagieren. Zwischenmenschliche Interaktionen sind ihrerseits gute oder schlechte Erfahrungen, die zu einer Neuverdrahtung führen.

Lesson No. 6: Brains Make More than One Kind of Mind

Eine Eigenschaft von Netzwerken ist Degeneracy (cf. Lesson No. 2), d.h. dieselbe Funktion kann von verschiedenen Teilen des Netzwerkes übernommen werden. Umgekehrt können Netzwerke für dieselben Probleme verschiedene Lösungen generieren, je nach Vorerfahrung. Wir zeigen verschiedene Persönlichkeiten, entwickeln verschiedene Kulturen. Damit wir als Spezies überleben ist auch wichtig, dass wir neben der gegenseitigen Synchronistation für die Kooperation verschiedene Verhaltensweisen hervorbringen können, um uns an neue Bedingungen anpassen zu können. Psychische Störungen können dabei als dysfunktionale Funktionsvariationen verstanden werden.

Lesson No. 7: Our Brains Can Create Reality

Neben der “physikalischen Realität” mit Steinen, Pflanzen, Tieren etc. existiert für uns eine “soziale Realität” mit z.B. Landesgrenzen, dem Wert von Geld oder auch Verfassungen, die unser Erleben und Handeln mitbestimmen. Dabei sind diese “sozialen Realitäten” von uns, “unseren Gehirnen” gemacht und dennoch so real wie eben z.B. Ozeane und Gebirge. Damit der Mensch zur Herausbildung dieser Realitäten, seiner Kultur, in der Lage ist, bedarf es der 5 “C”s bzw. 5 “K”s:

  • Creativity (Kreativität)

  • Communication (Kommunikation)

  • Copying (Kopieren)

  • Cooperation (Kooperation)

  • Compression (Kompression)

Dabei ist v.a. die “compression” die für den Menschen typische und verglichen mit anderen Spezies herausragende Fähigkeit. Gemeint ist damit die Fähigkeit des Menschen zur Reduktion von Redundanz, d.h. sensorischen Integration und damit Abstraktion.


Barrett LF. Seven and a Half Lessons about the Brain. Boston: HOUGHTON MIFFLIN; 2020. 192 S.