Einführung Diagnostik & Therapie

Die drei Ebenen von Diagnosen

In der Medizin ist die Unterscheidung zwischen ätiologischer, nosologischer und
phänomenologischer Ebene bei Diagnosen ausgesprochen
zentral und zugleich elegant.


Die ätiologische Ebene

Erkrankungen lassen sich auf drei Ebenen beschreiben. Die unterste Ebene ist die der Ursache, die als Ätiologie bezeichnet wird. Was hat zur Erkrankung geführt? Warum ist die Störung entstanden? Mögliche Ursachen sind beispielsweise Schadstoffe, physikalische Einwirkungen (Traumata) oder psychosoziale Belastungen. Einige Ursachen führen direkt zu spezifischen Erkrankungen. Beispiele sind:

  • Eine Hirnverletzung nach Schädel-Hirn-Trauma ist die Ätiologie einer posttraumatischen Epilepsie.

  • Eine Autoimmunreaktion gegen NMDA-Rezeptoren ist die Ätiologie einer NMDA-Enzephalitis.

  • Eine Mutation im HTT-Gen ist die Ätiologie der Huntington-Krankheit.

  • In der Psychiatrie: Eine chronische psychosoziale Belastung oder traumatische Erfahrung kann ätiologisch für eine Depression oder eine PTBS mitverantwortlich sein.

Gerade in der Psychiatrie ist die Ätiologie multifaktoriell, das heisst, es gibt nicht eine einzige Ursache, sondern viele Faktoren, die zur Krankheitsdynamik führen.

 
 

Die nosologische Ebene

Die nächste nosologische Ebene bezeichnet die Einordnung in ein Krankheitskonzept oder eine diagnostische Kategorie und somit die Feststellung, welche Krankheit vorliegt. Dabei sind noch nicht alle Krankheiten vollständig verstanden. Treten jedoch Symptome regelmäßig in einer spezifischen Konstellation auf, werden sie als Krankheit bezeichnet. Beispiele sind:

  • „Morbus Parkinson“ ist eine nosologische Diagnose, unabhängig von der genauen Ursache (idiopathisch, genetisch, toxisch).

  • „Schizophrenie“ ist eine nosologische Einheit nach ICD-11 oder DSM-5-TR, die ein bestimmtes Muster von Symptomen und Verlauf beschreibt.

  • „Epilepsie“ ist eine nosologische Diagnose, deren Ätiologie sehr verschieden sein kann.

Die nosologische Ebene dient somit der Klassifikation und Kommunikation innerhalb der Medizin, beispielsweise für Forschung, Statistik und Therapieplanung.

Die phönomenlogische Ebene

Die phänomenologische Ebene beschreibt das unmittelbar Beobachtbare und Erlebbare, also das klinische Bild mit Beschwerden, Symptomen, Verhalten und auch Messwerten wie Laborresultaten. Sie beantwortet die Frage: „Wie zeigt sich die Störung?” Beispiele sind:

  • Eine Patientin zeigt verlangsamte Bewegungen, Rigor und Tremor → phänomenologisch: „Parkinsonsyndrom“.

  • Ein Patient berichtet über akustische Halluzinationen und Wahnideen → phänomenologisch: „psychotisches Syndrom“.

  • Lähmung des rechten Arms und Aphasie → phänomenologisch: „linkshemisphärisches Ausfallssyndrom“.

Diese Ebene bildet die klinische Ausgangsbasis jeder Diagnostik. Sie liefert die beobachtbaren Hinweise, aus denen Rückschlüsse auf die nosologische und gegebenenfalls auch auf die ätiologische Ebene gezogen werden.

Spezielle Aspekte in der Neurologie und Psychiatrie

In der Neurologie und insbesondere in der Psychiatrie lassen sich die Erklärungsebenen nicht immer eindeutig voneinander abgrenzen. Auch wenn die Neurologie den Anspruch hat, die neuronalen Mechanismen zu verstehen, ist dies bei vielen Störungen auch heute noch nicht möglich.

Es hat sich die Unterscheidung zwischen Störungen von Schaltkreisen und Störungen von Regelkreisen bewährt. Bei einem Hirnschlag ist beispielsweise ein Teil des Gehirns geschädigt, „Kabel” und „Prozessoren” sind defekt. Einige Schaltkreise funktionieren nicht mehr. Bei anderen Störungen, wie einigen Epilepsien, lassen sich dagegen keine „Hardwaredefekte“ nachweisen. Es lassen sich jedoch Störungen im Ablauf, also in Regelkreisen, nachweisen. Psychiatrisch bedingte Störungen von Motorik oder Sensorik werden in der Neurologie als Störungen von Regelkreisen verstanden und als „funktionell“ oder auch „psychogen“ bezeichnet.

In der Psychiatrie wird diese Unterscheidung ebenfalls getroffen, jedoch weniger deutlich. So wird beispielsweise sehr wohl zwischen einem depressiven Syndrom und einer Depression unterschieden. Depressive Symptome sind rein beschreibend gemeint und sagen nichts darüber aus, ob diese im Rahmen einer „depressiven Episode“ oder einer „Schizophrenie“ auftreten. Für die Diagnose einer „depressiven Episode“ müssen zahlreiche weitere Kriterien wie die Konstellation der Symptome und die Zeitdauer erfüllt sein. Da der neuronale Mechanismus, also die Nosologie, noch nicht so gut verstanden ist wie beispielsweise der bei einer Parkinson-Krankheit, ist auch die „nosologische“ Bezeichnung beschreibend, eben „depressive Episode“. Ist die depressive Symptomatik klar auf eine Schaltkreis-Störung, also beispielsweise auf einen Hirnschlag, zurückzuführen, so wird in der Psychiatrie von einer „organischen Depression” gesprochen. In der Neurologie wird dasselbe Krankheitsbild als “Hirnschlag mit im Vordergrund stehenden depressiven Symptomen” bezeichnet.